Ödland - Thriller
Einzig der silbern strahlende Mond dient ihnen als Lichtquelle. Dicht aneinandergedrängte Männer und Frauen bilden einen Kreis, in dessen Mitte sich ein abechniw, ein Sänger mit hoher Stimmlage, ein Flötist und ein Trommler aufstellen. Einige Flötentriller kündigen das Lied an. Dann setzt sich der Sänger in Bewegung. Gefolgt vom Flötisten, spaziert er langsam durch das Innere des Kreises und trägt seine Weise vor. Die anderen Teilnehmer, die alle einen weißen Cheche und eine ebensolche Abaya tragen, begleiten ihn sehr gesammelt mit einem dunklen Chorgesang sowie einem leichten Händeklatschen, während sie ihre Körper wiegen wie die Palmen im Abendwind. Laurie und Rudy sind fasziniert von der seltsamen Schönheit des Ganzen, die ihnen mysteriös und mystisch erscheint, als würden die Sänger die Geister ihrer Vorfahren oder die der Nacht anrufen.
Nachdem jedoch die erste Gänsehaut vergangen ist und sich die aufgewühlten Gefühle gelegt haben, findet Rudy die polyphonen Gesänge ein wenig eintönig. Überdies muss er nach dem vielen Tee dringend pinkeln. Weil er seine wie gebannt lauschenden Gastgeber nicht mit der profanen Frage nach den Toiletten stören will, beschließt er, sich auf eigene Faust auf die Suche zu machen. Leise verlässt er den Kreis der Zuhörer, geht die Treppe zur Straße hinunter und irrt dann in den Sträßchen herum, die alle zu erleuchtet und bevölkert sind, um sich irgendwo in einer Ecke zu erleichtern. Seine Wanderung führt ihn zum Ausgang des Ksar, allerdings nicht auf der Garten-, sondern auf der Wüstenseite. Dort sind die Dünen ganz nah, werden aber in ihrer unermüdlichen Wanderung von afrags aufgehalten, quadratischen Graspflanzungen, die sie befestigen und zurückhalten. Da sieht mich bestimmt keiner, denkt Rudy. Von seinem dringenden Bedürfnis gequält, erklimmt er die erste bepflanzte Düne im Laufschritt und rennt auf der anderen Seite hinunter, während er bereits seinen Reißverschluss öffnet. Lange pinkelt er mit erleichtert zum Himmel erhobenem Kopf in den braunen Sand.
Und dann plötzlich sieht er ihn.
Es ist ein Mann in einer dunklen Djellaba. Auf dem Kopf trägt er den tagelmoust, den indigofarbenen Cheche der Tuareg, und um die Taille hat er die takouba, das berühmte Tuareg-Schwert, gegürtet. Während er langsam die Düne hinunterschreitet, flattert seine weite Kleidung im Wind, der sich erhoben hat. Er kommt genau auf Rudy zu, der hastig seine Hose zuknöpft. Etwas an seinem Gang ist merkwürdig ... Erst als der Targi nur noch wenige Schritte von ihm entfernt ist, fällt Rudy auf, was ihn befremdet hat: Der Mann hinterlässt keine Spur im Sand.
Bestürzt versucht Rudy, ihm ins Gesicht zu sehen, doch trotz des hellen Mondlichts erkennt er nur einen schattigen Abgrund. Er will etwas sagen, einen Willkommensgruß sprechen, wie es hier üblich ist, doch die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Es ist nämlich der Targi, der ihn anspricht - und zwar direkt in seinem Kopf.
»Brecht auf! Brecht sofort auf!«
»Was? Wie?«, stammelt Rudy.
Eine plötzliche Windbö weht ihm Sand in die Augen und zwingt ihn, den Kopf zu senken und sein Gesicht mit den Händen zu schützen. Als er wieder aufblickt, ist der blaue Mann verschwunden.
Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Es gibt nicht die geringste Spur von ihm.
Sosehr Rudy sich auch dreht und wendet, er muss zugeben, dass er eine starke, sehr eindrucksvolle Vision gehabt hat, die ihm noch tief in den Knochen sitzt. Zur Beruhigung seines Gewissens klettert er ungelenk durch den beweglichen Sand bis auf den Kamm der Düne ... Nichts. Niemand.
Am Horizont jedoch, weit jenseits der im Mondlicht wie eine silberne Herde daliegenden Dünen, werden die Myriaden Sterne von einer schwellenden, düsteren Mauer verfinstert, in deren Bauch Rudy fahle Blitze zucken sieht.
Rudy saust die Sanddüne hinunter, rennt wieder in den Ksar, sucht sich aufs Geratewohl seinen Weg durch die Gässchen, wobei er sich vom ernsten Chorgesang des ahellil leiten lässt, findet die Treppe wieder, nimmt immer vier Stufen auf einmal, erreicht die Terrasse, drängt sich rücksichtslos durch die meditierende Menge und zerrt Laurie am Ärmel ihrer Gandoura.
»Schnell, wir verschwinden.«
»Wie bitte? Es ist noch nicht zu Ende. Und unsere Gastgeber...«
»Komm! Schnell! Ein Notfall.«
Rudy nimmt die völlig perplexe Laurie an der Hand und rennt über den Dorfplatz, wo von hauptsächlich jungen Leuten immer noch ein wilder qarqabou
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