Ödland - Thriller
natürlich, wenn er selbst der göttlichen Gnade teilhaftig würde und sich zu uns bekehrte. Glauben Sie, dass Sie das schaffen könnten?«
»Ihn zu bekehren? Das bezweifle ich.«
»Nicht doch, Schwester Salome, zweifeln Sie nicht. Der Glaube ist Ihre Stütze, und Gott ist an Ihrer Seite, in Ihrem eigenen Wohnzimmer.« Angesichts von Pamelas unentschlossenem Ausdruck hielt er es für richtig, noch hinzuzufügen: »Gottes Wege sind unerforschlich. Sollte der Herr selbst sich entschließen, den Schänder zu bestrafen, dürfen wir uns dem nicht widersetzen und seinen Entschluss nicht infrage stellen.«
Was wollte Bruder Ezechiel ihr damit zu verstehen geben? Plötzlich fielen Pamela die schrecklichen Anschuldigungen ein, mit denen die Ungläubigen die Göttliche Legion überhäuften - es ging um Morde, Anschläge, Pogrome und Holocaust, um die Explosion eines Deichs in Europa, das Massaker an einer jüdischen Gemeinde in Russland und den Anthrax-Anschlag auf die Straßen von New Orleans ... Nein, nein, nein! Das war einfach nicht möglich. Trotzdem bedurfte es vieler Stunden vor dem Lord's Channel und der wiederholten kompletten Lektüre von Gott spricht zu mir und Die Errettung Amerikas durch Jesus, um ihren reinen Glauben wiederzufinden. Als Nelson ihre Probleme bemerkte, nahm er sie mit zu einem Jahrestag der Legion, wo die Zeugnisse von Menschen, denen ein Wunder widerfahren war, eine flammende Predigt des Reverends und eine substanzielle Spende in bar ihr Vertrauen endgültig wiederherstellten.
Ein oder zwei Mal hat Pamela tatsächlich versucht, Anthony zu bekehren und ihn für sich einzunehmen, indem sie - möge Gott ihr verzeihen - sogar ihren Charme einsetzte. Doch alles war verlorene Liebesmüh. Kaum sprach sie die Worte »Göttliche Legion« aus oder zeigte ihm eine der Broschüren, wollte Anthony nichts mehr davon hören, warf ihr das Faltblatt ins Gesicht oder bezeichnete sie als »arme Irre«, wobei das noch eine der freundlicheren Bezeichnungen war. Erst in ihren Gebeten fand sie wieder Trost, er dagegen in seinen Medikamenten. Sollte er also tatsächlich ... verschwinden?
»Mein Gott, Tony, bitte hilf mir doch! Wenn Gott wirklich durch dich spricht, wieso zeigt er mir dann keinen Weg? Warum lässt er mich im Finstern und in der Unsicherheit? Vater im Himmel, ist dies eine Prüfung, der du mich unterziehst? Willst du mich strafen? Willst du meinen Glauben auf die Probe stellen wie den von Hiob?«
»Hi, hi, hi«, kichert Tony Junior und beginnt zu sabbern.
Mechanisch greift Pamela nach einem Kleenex und wischt ihm den Mund ab, wie sie es immer getan hat. So, wie sie ihn auch wäscht, seine Windeln wechselt, ihn anzieht und füttert - alles Aufgaben, die sie selbst übernommen hat, seit keine Pflegerin mehr im Haus ist. (Eine neue Pflegerin würde sie heute nur noch unter der Bedingung einstellen, dass sie Mitglied der Göttlichen Legion ist.) Nicht zu vergessen die Medikamente, die sie Tony ebenfalls verabreicht.
Wie vom Blitz gerührt, richtet Pamela sich auf. Nein, sie gibt ihm keine Medikamente mehr. Sie hat es vergessen - seit wie lange schon? Wie konnte sie so etwas Wichtiges nur vergessen, dieses Ritual, das sich dreimal täglich wiederholte, seit Tony auf der Welt war, oder zumindest fast so lange? Trotzdem macht er nicht den Eindruck, als ob es ihm schlechter ginge. Im Gegenteil! Eher sieht es so aus, als ob die Medikamentenpause ihm bekomme, denn sein Gesicht ist weniger grau, die Haut glatter, seine Augen glänzen und sind hellwach, und seine Bewegungen kommen ihr längst nicht mehr so linkisch vor. Mein Gott! Pamela schlägt sich gegen die Stirn und muss über ihre eigene Dummheit lachen. Dass sie daran nicht früher gedacht hat! Gott ist es, der ihn versorgt! Würde der Messias in einem schwachen, unförmigen Körper wohnen, der, von Progeria zerfressen, früher oder später sterben müsste, ohne ihn am Leben zu erhalten - ihn vielleicht sogar irgendwann zu heilen und damit das Wunder zu bewirken, das die Medizin nicht vollbringen konnte? Aber sollte sie nicht trotzdem lieber versuchen, dieses Wunder mit den verschriebenen Medikamenten zu unterstützen?
Plötzlich kommt ihr ein Bild in den Sinn, oder ist es eine Erinnerung? Alle Medikamente von Junior liegen im Mülleimer. Ist das wahr? Hätte sie so etwas tun können? Neugierig läuft Pamela ins Bad und öffnet den für Tony reservierten Medizinschrank.
Er ist leer.
Pamela wird von einem Schwindel gepackt, der sie zwingt, sich an
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