Ödland - Thriller
hinter ihm her, doch Rudy biegt bei der ersten Möglichkeit nach rechts ab und ist schnell aus der Schusslinie.
Er fährt einfach der Nase nach. Bald schon erreicht er eine der Autobahnen, von denen Bochum umgeben ist. Jetzt kann er sich erst einmal entspannen. Die Autobahnen werden nachts wenig befahren, abgesehen von einigen überdimensionalen Lkws, die über einen Autopiloten verfügen. Kontrolliert wird hier deutlich seltener als in Innenstädten und auf Zufahrtsstraßen.
Rudy orientiert sich in Richtung Wuppertal, denn er glaubt sich zu erinnern, dass die Stadt südlich von Bochum liegt und sich damit in entgegengesetzter Richtung zur Sektion 25 befindet. Von Wuppertal fährt er weiter nach Düsseldorf, von dort nach Köln und schließlich nach Bonn. Zwischen Bonn und Koblenz ist der erste helle Streifen am Horizont zu sehen. Rudy biegt auf einen Parkplatz ab, fährt bis zum Ende durch, stellt den Wagen quer und schläft trotz der durch die zerbrochenen Scheibe eindringenden Kälte sofort ein. Sein letzter Gedanke ist die Hoffnung, dass es inzwischen zu spät für die Piraten, aber noch zu früh für die Polizei ist.
Albtraum
What have you done to the game
Was it a victory, a shame
Where have you gone before morning dew
The game will not end without you.
Deine Lakaien, »The Game«
(Kasmodiah, © Chrom 1999)
Rudy wird von einem Lichtstrahl geweckt, der genau in seine Augen scheint. Eine kurze Paniksekunde lang glaubt er, dass es sich um die Taschenlampe eines Polizisten handelt, schreckt auf dem Fahrersitz zusammen und schneidet sich an einem der Glassplitter, die im gesamten Innenraum verstreut liegen. Doch es ist nur die Sonne, die zwischen den Zweigen der Bäume hindurchblitzt. Das Wetter ist schön und kalt. Vögel singen. In einiger Entfernung summt der Verkehr der Autobahn. Rudy ist vor Kälte wie erstarrt. Seine Gliedmaßen sind steif und mit kleinen Glasscherben gespickt. Trotzdem lächelt er. Er lächelt die Vögel, die Bäume, die Sonne und den blauen Himmel an. Lange hat er keinen so schönen Tag mehr erlebt. Sein Lächeln kommt aus tiefer Seele - zum ersten Mal seit langer Zeit. Mühsam quält er sich aus dem H5, dehnt und streckt sich und läuft einige Schritte in der knackig kühlen Morgenluft. Er hat den Eindruck, endlich aus einem schrecklichen, endlosen Albtraum erwacht zu sein, in dem es nichts als Tod, Gewalt und Blut gab. Die Toten hat es in Wirklichkeit nie gegeben, oder? Alles war nichts als ein schlimmer Traum, ein holografisches Spiel, das Aufbäumen einer virtuellen Welt. Selbst der Tod von Aneke und Kristin war nur virtuell. Immerhin hat er die beiden weder gesehen noch berührt. Nichts von allem hat in Wirklichkeit stattgefunden, und eines Tages wird Rudy nach Swifterbant heimkehren, seine Frau und seine Tochter in die Arme schließen und seine geliebten Tulpen streicheln. Alles wird wieder sein wie früher. Wie früher ...
Rudys Lächeln verzerrt sich zur Grimasse. Der Albtraum springt ihn wieder an wie ein brüllendes Ungeheuer. Doch, es hat ein »Früher« gegeben. Alles ist wirklich. Aneke und Kristin leben nicht mehr; die Tulpen und Swifterbant sind verschwunden. Es gibt kein Zurück. Drei Leichen werden auf Jahre hinaus sein Gewissen belasten, dessen ist er sich sicher. Schon jetzt kann er ihre verunstalteten Gesichter sehen, die in den Tiefen seiner Erinnerung einen makabren Totentanz aufführen. Und auch die Angst und die Gewalt, die sich wie Säure in seine Seele ätzen, sind Realität. Selbst der Luxusschlitten mit der zertrümmerten Scheibe ist wirklich, ebenso wie die Blutflecke auf den Ledersitzen und die drohende schwarze Pistole an der Stelle, wo der Tote gesessen hat. Das Spiel geht weiter, Rudy! Und du bist immer noch im Rennen.
Rudy macht sich daran, den Wagen notdürftig zu säubern. Er fegt die Glassplitter hinaus und wischt die Blutflecken fort. Die Pistole versteckt er im Handschuhfach, wo er eine angenehme Entdeckung macht: Er findet ein Bündel Geldscheine im Wert von 5000 Euro, ein Handy und eine Schachtel mit 100 Kugeln vom Kaliber 5,67, die in die Luger passen. Außerdem stöbert er ein Päckchen mit weißem Pulver auf. Er kostet es - es ist bitter. Vermutlich Heroin. Diese Entdeckung freut ihn allerdings ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Sie ärgert ihn. Zwar könnte er sicher eine ganze Stange Geld damit herausschlagen, doch in diesem schmutzigen Geschäft kennt er sich nicht aus. Und außerdem erinnert er sich nur allzu gut an die drei Typen mit
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