Ödland - Thriller
dass Rudy als zufällig zu Geld gekommener Ökoflüchtling diese schicke Boutique betreten und dort 500 Euro für Klamotten lassen darf - unter anderem kauft er einen wundervollen Lederblouson als sehr gediegenen Ersatz für die gestohlene Bomberjacke -, ohne sich als Mitglied der Elite ausweisen zu müssen.
In der Umkleidekabine stößt er in der Tasche seiner Drillichhose zufällig auf den Ausdruck mit Stellenanzeigen, den die hübsche Blondine - wie hieß sie noch gleich? Ach ja, Marlene! - ihm in die Hand gedrückt hat. Zunächst will er ihn wegwerfen, doch dann besinnt er sich: Information hat noch nie geschadet.
Nachdem Rudy sich von Kopf bis Fuß in sein geliebtes Schwarz eingekleidet und bei dieser Gelegenheit gleich noch eine ganze Tasche voller neuer Klamotten erstanden hat, genehmigt er sich ein köstliches Mittagessen in einem Edelrestaurant am Rheinufer in der Clemensstadt. Beim Essen sieht er den Ausflugsdampfern nach und fragt sich, wie es mit ihm selbst weitergehen soll. Er muss fort von hier, so viel ist klar - aber wohin? Das Entsetzen und den Albtraum hat er hinter sich lassen können - wenngleich sie ihn weiterhin verfolgen -, und äußerlich hat er sich in einen zivilisierten Menschen zurückverwandelt. Vor ihm jedoch gähnt eine große Leere. Die 4500 Euro, die ihm geblieben sind, werden so rasch zusammenschmelzen wie Schnee in der Sonne. Und dann? Weiter fliehen? Aber wohin? Und was soll er mit seinem Leben anfangen?
Rudy zieht die Stellenanzeigen aus der Tasche, streicht sie auf dem Tischtuch glatt und liest sie durch, während er sich sein Tournedo Rossini schmecken lässt. Die aufgelisteten Jobs sind durch die Bank schauderhaft: Rückbau von Chemiefabriken oder stillgelegten Nuklearanlagen, Reinigung ausgemusterter Öltanker, Abbruch von Ruinen in Katastrophengebieten, Reinigung von verschmutzten Stränden, Aufräumen von durch Stürme vernichteten Wäldern. Lediglich eine einzige Anzeige zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie scheint origineller zu sein als die anderen.
Hilfsorganisation s. erf. Chauffeur f. Transp. v. Bohrmaterial n. Burkina Faso
(Afrika). Kostenübernahmegarant. ARBEIT 55273
Burkina Faso. Rudy findet, dass der Name gut klingt. Weit entfernt, exotisch, fremd. Warm und trocken. Afrika. Er ist doch ohnehin schon in Richtung Süden unterwegs. Was spräche dagegen, dass er diesen Weg einfach fortsetzt und ihn bis zum Ende geht? Wäre das nicht die Lösung, nach der er gerade gesucht hat? Nach Burkina Faso würde ihm bestimmt niemand folgen. Das Kommando Survival wäre dort mit Sicherheit nicht aktiv, und Dealer mit schweren Waffen vermutlich ebenfalls nicht. Zwar ist er kein erfahrener Chauffeur, aber einen Lkw kann er fahren - die Auslieferung seiner Blumen erforderte den entsprechenden Führerschein. Außerdem fährt er gern. Bohrmaterial nach Afrika zu bringen heißt überdies, dass er die Hände nicht tief in die Scheiße zu stecken braucht und auch nicht für 10 Euro täglich den Dreck irgendeiner ww-Tochter wegräumen muss. Es bedeutet im Gegenteil, sich nützlich zu machen und seinem Leben einen Sinn zu geben, wie er es Marlene gegenüber ausgedrückt hat. Gut, er bekäme zwar keinen Lohn, sondern nur seine Kosten erstattet, aber mit seinen 4500 Euro könnte er dort unten wie ein Fürst leben und vielleicht sogar wieder eine kleine Plantage aufbauen ... O ja, die Aussicht gefällt ihm. Mit einem Schlag kommen ihm Hunderte pfiffiger Ideen.
Er zögert keinen Augenblick länger und schaltet das Telefon ein, das umgehend zu klingeln beginnt. Was tun? Der Apparat klingelt weiter. Rudy nimmt das Gespräch an. Eine heisere Stimme redet hastig auf Deutsch auf ihn ein.
»Polizei!«, ruft Rudy in den Hörer. »Was wollen Sie?«
Sofort wird am anderen Ende aufgelegt. Jetzt wird man ihn wohl nicht mehr belästigen. Er hat das Zauberwort ausgesprochen.
Er tippt ARBEIT sowie die Chiffre der Anzeige ein. Ein Sprachcomputer macht ihn darauf aufmerksam, dass 30 Euro fällig werden, sobald er den Job annimmt und einen Termin mit dem Arbeitgeber vereinbaren möchte. Verdammt! Wie soll er das anstellen? Seine Bank hat seine Konten natürlich längst blockiert; damit ist eine telefonische Überweisung unmöglich. Schade, dass man nicht einfach 30 Euro in den Hörer stecken kann ... Da kommt Rudy eine Idee. Er ruft den Ober.
»Haben der Herr seine Mahlzeit beendet?«, erkundigt dieser sich servil.
»Ich möchte Sie bitten, mir einen kleinen Gefallen zu tun. Ich muss dringend
Weitere Kostenlose Bücher