Öffne deine Seele (German Edition)
hören.
«Oh, Jörg. Wenn Sie mir mit Verhältnissen und Bettgeschichten kommen, breche ich Ihnen den Kiefer! Du bist so ehrenhaft, aber so schrecklich steif. Ob ich mit ihm im Bett war? Natürlich war ich das. Retzlaff war ein Mann, und das war der einfachste Weg. Frag mich, was er sich davon versprochen hat, über das Offensichtliche hinaus. Vielleicht eine bessere Ausgangsposition, wenn Friedrich einmal tot war. Doch das war mir egal. Wichtig war, dass er unvorsichtig wurde. Er ließ seine Aktentasche einfach auf dem Stuhl liegen, wenn wir uns irgendwo im Hotel trafen und er hinterher duschen ging.»
Sie nahm einen tiefen Zug.
«Und irgendwann habe ich etwas entdeckt, das beim besten Willen nicht mit Sieverstedt Import/Export zusammenhängen konnte: Fotos. Nicht solche wie die von Falk, sondern … Wie sagt man? Expliziter.»
«Die Mädchen? Zusammen mit Kunden?»
Sie nickte. «Nicht diese Mädchen selbstverständlich, die im März erst angekommen sind. Das Geschäft läuft schon länger. Und ein Teil des Geschäftes besteht darin, dass man die Kunden irgendwann darauf aufmerksam macht, dass ihre Abenteuer auf Fotos festgehalten sind. Übrigens keine Erpressung, Jörg. Wir haben niemals zusätzliches Geld verlangt. Wir wollten sie lediglich daran erinnern, dass wir auf derselben Seite stehen.»
«Wir?»
«Wärst du hier, wenn du das nicht wüsstest? Ich habe Holger Retzlaff mit den Fotos konfrontiert. Natürlich hat er Ausflüchte gemacht und … Aber das ist ermüdend. Das Ergebnis kennst du: Wir wurden Partner.»
Albrecht sah sie an. Er konnte nicht anders.
Sie redete ganz freimütig.
Öffne deine Seele!
Er erinnerte sich an das Gefühl bei Marius im Studio. Euphorie beinahe. Es war ein unglaubliches Gefühl, befreiend, diese Dinge auszusprechen, die man so lange in seiner Seele begraben hatte.
Und doch scheuen wir davor zurück, dachte er. Wieder und wieder. Denn wir sind nicht frei, die Dinge auszusprechen. Dieser eine Moment der Ehrlichkeit nämlich zieht unabsehbare Konsequenzen nach sich: für uns selbst, doch nicht für uns allein.
«Und warum?», fragte er leise.
Zum ersten Mal trat eine Regung in ihren Blick, die sie nicht berechnet haben konnte: Verwirrung.
«Warum? Ist das dein Ernst? Ich war an Friedrich gekettet. Wir hatten einen Ehevertrag. Wenn ich ihn jemals verlassen hätte, hätte ich den Jungen niemals wiedergesehen. Und nicht das allein: Ich hätte vor dem Nichts gestanden. Ohne Geld, ohne Existenz. Das war die einzige Möglichkeit für mich, überhaupt …»
«Auf dem Rücken der Kinder.»
Und wieder eine neue Zigarette.
«Siehst du das so? Die meisten Leute werden das so sehen. Aber was hätte sie erwartet in ihrem Land? Auch dort hätten sie gearbeitet, so jung, wie sie waren. Härter wahrscheinlich als hier. Seitdem ich mit im Geschäft war, habe ich aufgepasst, dass ein Teil des Geldes für die Mädchen beiseitegelegt wurde. Nicht viel, aber immerhin. Die Ersten von ihnen haben inzwischen angefangen zu studieren. Ich weiß, dass unser Geschäft gegen die Gesetze verstößt, aber kannst du mir ins Gesicht sagen, dass wir etwas Böses getan haben?»
Das konnte er nicht.
Er konnte es nicht, weil er in diesem Moment überhaupt keine Worte hervorbringen konnte.
Sie glaubte wirklich, was sie da sagte.
Er räusperte sich und brauchte Sekunden, um seine Kehle wieder freizubekommen.
«Kann ich davon ausgehen, dass du geständig sein wirst?», sagte er.
Sie schaute ins Feuer.
«Macht das einen Unterschied? Wenn du hier bist, hast du Falks Fotos und …»
Albrecht verschluckte sich.
« Falks Fotos?»
In der Innentasche seines Anzugs steckten die Aufnahmen, die der Bekannte eines Bekannten von Alois Seydlbachers Bekanntem in Wedel gemacht hatte. Auf dem allerletzten Foto war bei mehrfacher Vergrößerung Elisabeth Sieverstedt zu identifizieren: auf dem Beifahrersitz des weißen Kastenwagens, während sich draußen die Kunden mit zweien der Kinder amüsierten.
«Die Fotos von seinen Speichersticks.» Sie klang verwirrt. «Sie müssen bei der Kameraausrüstung gelegen haben. Wenn ihr Falks Wagen habt …»
«Falk hat dich fotografiert? Mit den Kindern?»
Sie schwieg.
«Das ganze Bild», flüsterte Jörg Albrecht. «Ich bekomme niemals das ganze Bild.»
Er schüttelte sich.
Es war so klar, so logisch. So unvorstellbar logisch, wenn die einzelnen Puzzleteile an Ort und Stelle lagen.
Das ganze, vollständige Bild hatte eben nicht allein den Konsul zeigen dürfen,
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