Öffne deine Seele (German Edition)
Albrecht.
Und endlich, endlich begriff er.
***
Es war ein Déjà-vu.
Nacht lag über der Villengegend auf dem Falkenberg.
Bevor Albrecht das Eppendorfer Klinikum verlassen hatte, hatte er sich ein letztes Mal an einen der behandelnden Ärzte gewandt: Ja, Hannah Friedrichs war für den Augenblick außer Lebensgefahr. Nein, eine langfristige Prognose schließe das ausdrücklich nicht ein, und über die neurologischen Komplikationen sei bis auf weiteres keine Aussage möglich.
Dennis Friedrichs und die anderen waren geblieben, auch Albrechts Mitarbeiter.
Sie wussten, dass er gehen musste.
Ein einzelner Streifenwagen hielt vor dem Anwesen der Sieverstedts. Albrecht hatte in den vergangenen Tagen einmal zu oft erlebt, wie rasch die Volksseele der vermeintlich so kühlen Hamburger überkochen konnte. Er hatte kein Risiko eingehen wollen, falls Gerüchte über den widerwärtigen Nebenerwerb von Sieverstedt Import/Export durchsickern sollten.
Doch sonst war alles wie zweiundsiebzig Stunden zuvor.
Positionslichter zogen auf der nächtlichen Elbe ihre Bahn.
Die Villa lag in Dunkelheit, ausgenommen die Fenster der Bibliothek im zweiten Stock.
Jörg Albrecht bog in die Einfahrt.
Das vergitterte Tor öffnete sich, als er sich näherte.
Madeleine, die Hausangestellte, stand in der Eingangstür und grüßte ihn mit einem stummen Nicken.
Er stieg die Treppe aus dunklem Tropenholz hinauf, folgte dem Flur zur Bibliothek.
Die Zimmertür stand offen und ließ den Widerschein der Flammen auf das Parkett fallen.
Sie saß auf demselben samtbezogenen Sofa wie drei Tage zuvor und blickte ihm entgegen.
Sie war ganz in Weiß, wie bei jeder Begegnung, seitdem sie sich wiedergesehen hatten. Auf die Sonnenbrille hatte sie heute verzichtet, sodass sich die Male von Friedrichs Schlägen, schon verblassend, auf ihrer Haut abzeichneten.
«Du hast auf mich gewartet», sagte er.
Sie neigte den Kopf, langsam und konzentriert, und wies auf den Sessel ihr gegenüber.
Drei Meter trennten sie voneinander, und Jörg Albrecht wusste jetzt, dass er sie nie wieder überwinden würde.
Schwer ließ er sich niedersinken, betrachtete sie.
Aufrecht. Stark.
Sie hatte niemals schöner ausgesehen.
«Du wirst es mir erzählen», stellte er fest.
Sie erwiderte schweigend seinen Blick und holte eine Zigarettenschachtel hervor.
Eine Zigarettenspitze. Elisabeth führte sie zwischen die Lippen und hielt den Rauch sekundenlang in den Lungen, bevor sie die Wolke in die Luft steigen ließ.
«Du willst wissen, ob es mit dir zu tun hatte?», fragte sie.
Er dachte einen Moment lang nach. «Ich würde lügen, wenn ich das abstreiten würde.»
Sie sah ihn an. «Und ich würde lügen, wenn ich dir eine eindeutige Antwort geben würde.» Ihr Blick löste sich von ihm, verlor sich in den Flammen des Kamins. «Um ehrlich zu sein, kann ich mich kaum noch an das Gefühl erinnern. Das Gefühl, nachdem du damals gegangen bist. Im Grunde war ja doch nur alles wieder wie zuvor. Die Schläge. Die Kränkungen. Die …» Für einen Moment wurde ihre Stimme unsicher. «Die Angst. Aber vielleicht waren es auch zu viele Gefühle auf einmal. Enttäuschung. Wut. Hoffnungslosigkeit. Es schien keinen Ausweg zu geben.»
«Und wie hast du deinen Ausweg entdeckt?» Es gelang ihm nicht vollständig, die Bitterkeit aus der Frage herauszuhalten.
«Oh.» Für einen Moment klang sie amüsiert, zog dann aber unvermittelt an ihrer Zigarette, als ob sie die Regung überspielen müsste. «Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass es mit Friedrich zu tun hatte? Das hatte es nämlich tatsächlich. Friedrich war der misstrauischste und vorsichtigste Mensch, den du dir vorstellen kannst. Aber das weißt du ja. Doch zumindest war er berechenbar», sagte sie leise. «Auf seine Weise. Ich kannte die Stimmungen, in denen er …» Sie fuhr sich mit dem Finger über die verunstaltete Wange.
«Meine einzige Chance war, diese Stimmungen vorauszusehen und ihm aus dem Weg zu gehen», murmelte sie. «Doch Friedrich war vorsichtig. Er ließ sich nicht in die Karten schauen – oder in die Akten. Und natürlich waren seine Stimmungen abhängig von der Geschäftsentwicklung. Nun, was soll ich sagen? Holger Retzlaff war nicht so vorsichtig.»
«Ihr …» Albrecht räusperte sich. «Ihr beide hattet …»
Jetzt stieß sie tatsächlich ein Geräusch aus, das ein Kichern sein musste.
Jörg Albrecht wurde plötzlich bewusst, dass er diese Frau niemals hatte kichern oder gar lachen
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