Öffne deine Seele (German Edition)
sah auf die Uhr über der Tür des Wartebereichs. Viertel vor zwei.
«Gut», murmelte er. «Sehr gut.» Er holte Luft. «Jens? Ich habe mir etwas überlegt. Ich glaube, dass Sie diesen Prozess führen sollten.»
Schweigen. Zwei Sekunden ungefähr.
«Ich?» Heiser. «Ganz allein?»
«Sie, Jens. Wir arbeiten jetzt seit mehr als drei Jahren zusammen, und bei den großen, aufsehenerregenden Prozessen habe ich Sie viel zu lange in den Hintergrund gedrängt. Dabei habe ich längst absolutes Vertrauen in Sie, und ich habe das Gefühl, dass Sie einen richtig großen Prozess einfach einmal verdient haben. Eine Chance, sich einen eigenen Ruf aufzubauen. Eine Reputation.»
«Wirklich?»
«Ja», bestätigte Merz mit fester Stimme. Aus dem Augenwinkel sah er die Kriminalbeamten. Der dicke Bayer neben Faber blickte kurz auf. «Sie haben mein volles Vertrauen, Jens!»
«Danke.» Ganz leise. «Ich werde Sie nicht enttäuschen, Dr. Merz.»
«Da bin ich mir ganz sicher», versprach der Anwalt. «Und jetzt machen Sie erstmal Feierabend. Ab morgen warten große Dinge auf Sie.»
Er legte auf.
Aussichtslose Prozesse waren deprimierend.
Doch zuweilen ergaben sich Möglichkeiten, ihnen aus dem Weg zu gehen.
Er ließ das Handy in die Tasche gleiten.
Seine Stimmung veränderte sich auf der Stelle.
Seit mehr als zwei Stunden kämpften die Ärzte um Hannahs Leben.
Faber und sein Kollege saßen Seite an Seite, mit Blumenstrauß und Pralinenschachtel, die Familie hatte sich zu einem kleinen Grüppchen zusammengedrängt.
Dennis hatte einen Arm um die Schultern der Mutter gelegt, die sich immer wieder mit einem Taschentuch über die Augen fuhr. Am Gesicht des Vaters war äußerlich keine Regung abzulesen, doch Merz konnte sehen, wie er abwechselnd seine Handflächen knetete.
Eine Familie, vereint in der Sorge um den Menschen, den sie liebte.
Merz hatte bereits entschieden, dass es kein geeigneter Moment war, sich den Eltern offiziell vorzustellen.
Er war allein. Das Telefonat mit Jens Bertram war notwendig gewesen, aber eben auch ein Versuch, sich abzulenken von seiner eigenen Sorge.
Hannah.
Für ihn hatte nie in Frage gestanden, was sie ihm bedeutete. Und falls das nicht so gewesen war, war auch das in Ordnung. Dann hatte er etwas gelernt. Wie bei allem, das für einen Menschen wichtig war, wurde die wahre Bedeutung einem erst wirklich bewusst, wenn man Gefahr lief, es zu verlieren.
Doch wie konnte man etwas verlieren, das man niemals besessen hatte?
Unmerklich schüttelte der Anwalt den Kopf.
Sie hatten an diesem Abend einen Kampf erlebt, und einer der Verlierer stand bereits fest: Justus, das Werkzeug einer monströsen Gerechtigkeit.
Doch Joachim Merz glaubte, auch den Namen des zweiten Verlierers zu kennen.
Ein Kind! … Obwohl ich weiß, dass es unmöglich ist aus zehntausend Gründen und mehr …
Ein Kind? Das war nichts, über das er sich in seinem Leben jemals den Kopf zerbrochen hatte – schon in Ermangelung einer auch nur theoretisch geeigneten Partnerin.
Aber mit Hannah? Nun gut, wenn es ihr so wichtig war, dann eben auch ein Kind. Wenn er länger darüber nachdachte, erschien die Vorstellung gar nicht mehr so fremdartig.
Allerdings war wohl absehbar, dass der Gedanke zumindest im Moment verschwendete Energie war.
Die Glastüren zur Intensivstation öffneten sich.
Sofort waren alle Anwesenden auf den Beinen, Dennis und die Eltern ganz vorn. Merz hielt sich mit den beiden Beamten im Hintergrund.
Es war der behandelnde Arzt, der die Notfallmedizinerin abgelöst hatte.
«Bitte …» Hannahs Mutter. «Bitte sagen Sie uns, dass sie …»
Der Mediziner warf einen Blick in die Runde. «Wer gehört hier zu wem?»
Dennis sah ganz kurz über die Schulter. «Wir gehören alle zu ihr», sagte er. «Die Familie.» Ein Blick auf Merz und die Beamten. «Und gute Freunde.»
Das Gesicht des Anwalts blieb ausdruckslos.
Der Arzt holte Luft. «Die Patientin hat heute Abend schwere Verletzungen davongetragen. Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ihr Zustand in den vergangenen Stunden mehrfach äußerst kritisch war. Doch Ihre Frau ist stark.» Es war Dennis, den er ansah. «Sie hat einen starken Willen. Gerade bei Verletzungen, die eine neurologische Komponente aufweisen, kann das entscheidend sein. Sie hat einen langen Weg vor sich, und ich kann Ihnen nicht versprechen, dass sie wieder vollständig die Frau werden wird, die Sie kennen, doch für den Moment», er lächelte schwach, «ist sie über den Berg.»
Die
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