Öffne deine Seele (German Edition)
gefunden.
Bis zu diesem Moment konnte er lediglich sagen, was es nicht war, weil sich bei jeder einzelnen Theorie ein Faden löste und einer der trügerisch bunten Blütenkelche außer Reichweite trieb:
Es konnte nicht die Firma sein. Die gesamte Ausführung der Tat sprach dagegen.
Es konnte nicht der Konflikt zwischen Vater und Sohn sein. Das perfide Experiment des Konsuls, bei dem sich Falk am Ende zwischen der Familientradition und einer Künstlerexistenz hätte entscheiden müssen. Welchen Grund hätte Friedrich Sieverstedt haben sollen, dieses Experiment abzubrechen? Dermaßen hinfällig war er nun doch noch nicht, und im Übrigen hatte Falk seine entscheidende Pflicht noch nicht erledigt: für die nächste Sieverstedt-Generation zu sorgen.
Nein, und es konnte auch nicht die Szene im Volkspark sein. Einem Täter, der Pöbel und Perverse gegeneinander ausspielen wollte, wäre es ein Leichtes gewesen, die Tat nach einem Sexualdelikt aussehen zu lassen. Wenn die Leiche wenigstens nackt gewesen wäre …
Jörg Albrecht schüttelte den Kopf, im selben Moment, in dem er den Wagen auf die Langenhorner Chaussee lenkte.
So viele Gedanken. Aber nicht mehr heute Abend.
Dieser Abend war etwas Besonderes, schon weil er von einer uralten persönlichen Tradition abwich.
Es war nicht der letzte Dienstag im Monat.
Es war der letzte Montag.
Eine Podiumsdiskussion in der Volksrepublik China stand an, und sein alter Freund hatte es nicht anders einrichten können. Wenn man ihn einen Freund nennen konnte, wofür nach sechsundzwanzig Jahren der Bekanntschaft manches – aber nicht alles – sprach.
«Herr Bürgermeister?»
«Der Name ist Schultz!»
Abgesehen vom Wochentag war alles wie immer. Der alte Mann saß im Rollstuhl in seiner Bibliothek, und das Nikotin waberte in der Luft, dass man es in kleine Würfel hätte schneiden können.
Mit einer wortlosen Geste wies Schultz auf Albrechts Stuhl, seinem Platz gegenüber.
Zwischen ihnen auf einem niedrigen Tischchen stand das Schachspiel, die weißen Figuren heute auf Albrecht ausgerichtet.
Seit dem Winter hatten sie sich nach langer Zeit wieder einmal einige Partien geliefert – die Schultz selbstverständlich gewonnen hatte –, doch dieser Teil der Tradition stand nicht im Mittelpunkt ihrer Zusammenkünfte.
Es gab andere Dinge, die diese Abende ausmachten. Ereignisse, die sich im vergangenen Monat im Leben eines der beiden Männer zugetragen hatten, mochten den Ausgangspunkt bilden, doch die Dynamik ihrer Unterhaltungen sorgte von selbst dafür, dass sich die Runde um das Schachbrett nach und nach erweiterte. Um Sokrates oder Voltaire, um Marc Aurel oder Thomas von Aquin.
Die Besetzung wechselte.
«Sie wirken nachdenklich, Jörg», bemerkte Schultz in die Stille hinein, die nicht vollständig war. An der Grenze des Hörbaren perlte ein Klavierkonzert. Für den ehemaligen Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt mit Sicherheit jenseits dieser Grenze.
Albrechts Finger fuhren über den Rand seines Rotweinglases.
Er hatte geglaubt, dass er seinen Fall für diesen Abend aussperren konnte. Jetzt aber stellte er fest, dass das nicht möglich war.
Die abstrakten philosophischen Spekulationen mit dem alten Mann hatte er stets als anregend empfunden, doch konnten sie ihm eine Antwort auf die ganz konkrete Frage liefern, die seinen Verstand in diesem Moment fesselte?
Warum hatte Falk Sieverstedt im Wasser eines Bassins im Altonaer Volkspark sein Ende gefunden? Jörg Albrecht hatte versucht, sich dem Opfer zu nähern. Er hatte das Umfeld abgesteckt, und tatsächlich wusste er inzwischen, was den Jungen umgetrieben hatte: ein Leben als Künstler, ein wilderes und freieres Leben, als der Erbe des Konsuls es hätte erwarten können.
Doch war er damit tatsächlich in den Kern von Falk Sieverstedts Persönlichkeit vorgedrungen?
Vielleicht sollte er anders denken, denken wie dieser Fernsehmensch, Marius, und wenn es ihm noch so zuwider war. Wie hatte sich Marius seinem Anrufer genähert?
«Die menschliche Seele», sagte Albrecht. «Die Seele, Herr Bürgermeister. Haben Sie einmal über die Seele nachgedacht?»
Ein tiefer Zug aus der Zigarette.
Wenn die Frage Schultz überraschte, zeigte er das nicht. Albrecht bezweifelte, dass es besonders viele Dinge gab, die den alten Mann noch überraschen konnten.
«Es wird Sie kaum verblüffen, dass ich an die Existenz einer individuellen menschlichen Seele, wie das Christentum sie predigt, nicht recht glaube»,
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