Öffne deine Seele (German Edition)
erkundigte ich mich.
«Er musste eine Entscheidung treffen.» Marius ließ die Hände sinken. «Ganz gleich, wie sie ausgefallen wäre. Seine Träume leben – oder seine Träume begraben. Entweder weiterhin all den Luxus, der ihm nichts bedeutete, oder neu anfangen mit den Dingen, die wirklich zählen. Ein Ausbruch, Helena.»
«Ohne Rücksicht auf Verluste?»
«Ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn wir das eine, das uns alles bedeutet, nicht haben, was ist dann der Rest wert? Wenn wir das eine aber bekommen, was schert es uns, wenn wir den Rest verlieren?»
«Nicht viel», murmelte ich.
«Sie kennen die Situation?»
«Nicht … Nicht direkt.»
«Ich behaupte, dass wir alle sie kennen. Etwas, das sich mit Gewalt in unser Leben drängt, und mit einem Mal wird alles andere unwichtig. Ein Mensch. Sehr häufig ist es ein Mensch. Plötzlich steht er vor uns und erschüttert unser Leben in den Grundfesten, und alles, was dort sonst eine Rolle spielt, rückt an den Rand. Selbst unsere Familie, die nicht begreifen kann, was mit uns los ist. Sagen Sie mir nicht, dass Sie das niemals erlebt haben, einen solchen großen, wilden, gewaltigen Traum. Dass Sie nicht daran zurückdenken …»
«Marius, ich bin hier, um mit Ihnen über Felix zu sprechen.»
«Das tun wir gerade, Helena. Wir sprechen über Felix, weil Felix etwas erlebt hat, das uns allen in unserem Leben begegnet. Ein Moment, ein Mensch, der uns aus der Bahn wirft, und der Rest steht drum herum und kann es nicht begreifen. Und dann treffen wir eine Entscheidung. Manchmal bereuen wir sie ein Leben lang. Und nicht wir allein, nicht wahr?»
Er lehnte sich vor, nur ein oder zwei Zentimeter, sodass er aus dem Lichtkegel blieb. Und doch war es mehr als ein Vorlehnen: ein Niederstoßen wie ein Raubvogel, ein Habicht, der die Beute gesichtet hat und weiß, dass sie ihm nicht mehr entgehen kann.
Die Bewegung kam so plötzlich, dass ich zusammenzuckte.
Dennis!
Er dachte an Dennis. Mit einem Mal war ich mir hundertprozentig sicher. Wie auch immer er das angestellt hatte.
Er war Marius , und ich hatte nicht die Spur einer Ahnung, wie detailliert Dennis am Telefon geworden war.
Und ich roch nach Merz’ Rasierwasser.
«Felix ist tot», sagte ich kalt. «Und er hatte eine Familie, die jetzt um ihn trauert.» Das war die Lüge des Jahrhunderts, aber das war gerade egal. Yvette Wahltjen trauerte mit Sicherheit. «Dieser Familie, vor allem aber Ihrem Freund Felix schulden wir etwas. Wenn Sie mir nicht helfen wollen, bitte. Ihre Telefonate mit dem Opfer sind ja bestens dokumentiert, und der Sender hat bereits zugesagt, sie uns zur Verfügung zu stellen. Wenn wir an Sie noch Fragen haben, unterhalten wir uns am besten in Ruhe.»
Ich stand auf und freute mich einen Moment lang über das Quietschen des Besucherstuhls, der mit einem vernehmlichen Laut gegen das Mikrophon stieß.
«Auf dem Revier», fügte ich hinzu, doch in diesem Moment …
Aus den Augenwinkeln sah ich einen Schatten, fuhr herum und fasste zu.
Es war ein Impuls, nichts anderes.
Eine Sekunde lang starrte ich vollständig baff unmittelbar in das Objektiv der Kamera.
«Verdammt!», knurrte ich.
Mit einer wütenden Bewegung verfrachtete ich das Monster auf den Moderatorentisch und war im nächsten Moment auf dem Korridor.
Ich glaubte ein entsetztes Keuchen zu hören, als die Flurbeleuchtung das Studio für eine halbe Sekunde in Licht tauchte.
***
Ein Wust von Fäden.
Jörg Albrecht hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, eine Ermittlung auf diese Weise zu betrachten: im Zentrum das Bild, das der Täter am Tatort zurückgelassen hatte, der Leichnam in seiner Auffindungssituation.
Darum herum gruppierten sich unterschiedliche Elemente: Details der Tat, die Martin Euler und seine Kollegen mit ihren wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden zutage fördern konnten, aber auch das Leben des Opfers, Freunde und Feinde, Träume, Ängste und Leidenschaften.
Ein gewaltiges, buntes Wirrwarr – wie die Seerosen auf dem Bassin, in dem Falk Sieverstedt sein kaltes, nasses Ende gefunden hatte.
Doch die Wurzeln dieser Pflanzen reichten tiefer, schlangen sich würgend umeinander, wechselten für das Auge unsichtbar ihre Wuchsrichtung – und liefen doch am Ende zusammen, an dem einen, entscheidenden Punkt.
Die Fäden auf der unsichtbaren Ebene der Ermittlung.
Albrecht wusste, dass sie die entscheidende Ebene war. Und doch hatte er den entscheidenden Zusammenhang, das entscheidende Element noch nicht
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