Öffne deine Seele (German Edition)
erklärte Schultz, während er seine bis an den Filter aufgerauchte Zigarette zielsicher im Aschenbecher versenkte und sich übergangslos eine neue anzündete.
«Das habe ich nun auch nicht behauptet», warf der Hauptkommissar ein. «Dass das Christentum die Seele erfunden hätte.»
Ein heiseres Lachen, das in einen Hustenanfall mündete.
Albrecht nutzte die Gelegenheit und nahm einen Schluck Wein, bei dem sich wie erwartet sämtliche Geschmacksknospen zusammenzogen.
Mühsam kam Schultz wieder zu Atem und griff nach der Zigarette wie nach einem Inhalator.
«Das wollte ich Ihnen auch nicht unterstellen. Was ich sage, ist, dass unsere Vorstellung von der Seele christlich geprägt ist, wie wir auch andere, sehr viel ältere Traditionen durch eine christliche Brille betrachten. Schon aufgrund jahrhundertelanger Überlieferung. Dabei ist es absolut uninteressant, ob wir uns persönlich der einen oder anderen Glaubensgemeinschaft zurechnen.»
Albrecht nickte zögernd.
Damit konnte er leben.
Heiner Schultz lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück. Seine Augen waren halb geschlossen, als er einem Rauchkringel nachsah, der der holzverkleideten Decke entgegenschwebte wie ein nikotingesättigter Heiligenschein.
«Tatsächlich sind die Veränderungen, die wir dem Christentum verdanken, fundamental», erklärte Schultz. «Die Seele etwa stellen wir uns heute nicht mehr als einen Gegenstand vor, wie man das zu Aristoteles’ Zeiten tat. Damals waren viele Menschen fest davon überzeugt, dass die Seele eine definierte Form besitzt: kugelrund, die perfekte Form also. Eine eindeutige Farbe: rot, wenn ich mich richtig erinnere. Friedrich II. von Hohenstaufen …»
Albrecht beugte sich vor.
«Friedrich II. war noch Jahrhunderte später der Ansicht, dass die Seele sich – wenn sie denn existierte – stofflich fassen lassen müsste», erklärte Schultz. «Sein berüchtigtes Experiment ist Ihnen möglicherweise bekannt: einen todkranken Menschen in ein Fass zu sperren und nach Eintritt des Todes einen Sack über die …» Eine suchende Handbewegung.
«Das Spundloch?», half Albrecht.
«… über das Spundloch zu stülpen, um sie einzufangen.»
Albrecht lag die Frage nach dem Erfolg der Maßnahme auf der Zunge, doch im letzten Moment schluckte er sie herunter. Er wollte keinen neuen Hustenanfall provozieren.
«Nach dem Tode, glaubte man, entweiche die Seele durch die Nasenlöcher», murmelte Schultz.
Fasziniert starrte der Hauptkommissar den alten Mann an, der soeben neue Nikotinwolken ausstieß. Durch die Nasenlöcher.
«Eine Vorstellung, die nahelag, wenn wir bedenken, wo man den Sitz der Seele lokalisierte.» Schultz hob eine zittrige Hand und tippte sich kurz an die Stirn. «Der kürzeste Weg.»
Der Hauptkommissar nickte. Er …
Abrupt hielt er inne.
«Wobei diese Vorstellung endgültig erst mit der Aufklärung und der Französischen Revolution …», murmelte Schultz.
«Was haben Sie gesagt?» Albrechts Stimme war rau. Ein Gedanke hatte sich in seinem Kopf materialisiert. Mehr als ein Gedanke.
Wie ein Fieberschub. Bündel von Energien, die an seinen Nervenbahnen entlanghuschten: Wurzelstränge im unergründlichen Geflecht am Boden des nächtlichen Bassins.
«Mit dem achtzehnten Jahrhundert ist ein Wandel eingetreten», dozierte Schultz. «Mit der Aufklärung und der …»
«Vorher!» Albrecht griff nach seinem Rotweinglas und kippte den Rest des Inhalts mit einem Zug herunter.
Die aufmerksamen alten Augen zogen sich irritiert zusammen.
«Die Seele wurde im Bereich der Stirn lokalisiert», erklärte Schultz. «Was insofern erstaunlich ist, als dieser Bereich unseres Gehirns tatsächlich …»
Albrecht schob seinen Stuhl zurück.
«Herr Bürgermeister? Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit in China, aber ich muss an dieser Stelle …»
Er war bereits an der Tür.
«Wir sehen uns am letzten Dienstag.» Ein letzter Blick über die Schulter. «Am letzten Dienstag im Juli.»
Auf dem Gehsteig an der Langenhorner Chaussee schlug ihm schwülheiße Luft entgegen, doch er achtete nicht darauf, sondern riss sein Mobiltelefon aus der Tasche, tippte auf die Kurzwahl.
Euler, verdammt!
***
Verstohlen hielt ich Ausschau, ob sich an den Fensterscheiben Eiskristalle bildeten.
Ich wäre nicht überrascht gewesen.
Unterkühlt war mir Merkatz schon bei meiner Ankunft vorgekommen. Inzwischen konnte sie nicht mehr weit entfernt sein vom absoluten Nullpunkt.
«Ich gebe Ihnen meine Karte.» An der Glastür nach
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