Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Einbruch, keine Verwüstung, kein Diebstahl. Dennoch ging sie zurück ins Untergeschoss, um den seltsamen Streifen an sich zu nehmen und zu dem Restaurator zu bringen, dessen Visitenkarte sie mitgenommen hatte. Sie hatte mit Sicherheit noch nie einen Kurzfilm gesehen, der psychisch so strapaziös war. Sie, die seit Jahren an Autopsien und Verbrechensschauplätze gewöhnt war, fühlte sich völlig leer.
Als sie wieder im Freien war, genoss sie das Sonnenlicht, das ihr ins Gesicht schien.
Kapitel 7
Was haben Sie gemacht, ehe Sie bei der OCRVP angefangen haben, Hauptkommissar Sharko?«
» Sagen wir, um es einfach zu machen, dass ich lange bei der Kripo war.«
» Sehr gut…«
Georges Péresse, der zuständige Hauptkommissar der Kripo Rouen, hatte harte Gesichtszüge. Im Wagen hatte Lucas Poirier ihn als einen strengen Mann beschrieben, der allergisch auf jegliche Art von Einmischung reagierte. Péresse schien mit seinen höchstens ein Meter sechzig in seinem grauen Anzug zwar halb zu ertrinken, hatte aber eine Stimme à la Barry White. Und wenn er losbrüllte, hatte man den Eindruck, die Luft würde vibrieren.
» Wir sind es nicht wirklich gewöhnt, mit… Profilern zu arbeiten. Ich hoffe, Sie kommen allein klar. Wir sind sowieso schon unterbesetzt, und meine Männer sind sehr beschäftigt.«
Sharko saß ihm gegenüber und hatte die Hände auf die Knie gelegt. Die Hitze erstickte ihn schier.
» Keine Sorge, ich bin stumm wie ein Autopsiebericht. Vermutlich werde ich in drei, vier Tagen mit einem Stapel Fotokopien unter dem Arm verschwinden. Wichtig ist nur, dass ich Zugang zu allen Informationen habe.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf den blank polierten Schreibtisch. » Ich meine, wirklich zu allen Informationen. Und dass mein Hotelzimmer eine Badewanne hat, weil ich bei diesen Temperaturen gerne ein kaltes Bad nehme.«
Kommissar Péresse brach in schallendes Gelächter aus. Er erhob sich und schaltete den Ventilator höher, der genau vor dem Porträt von Präsident Sarkozy stand.
» Ah, Sie wollen Informationen? Nun, die Nachbarschaftsbefragung hat bislang nichts ergeben. Keine direkten oder indirekten Zeugen. Außer den verwesten Leichen haben wir an Ort und Stelle keine Indizien gefunden, was logisch ist, da sie vor mehreren Monaten vergraben wurden und wir hier starke Gewitter hatten. Im Moment ist die gesamte Mannschaft– Gerichtsmediziner, Anthropologe, Entomologe– damit beschäftigt herauszufinden, was zu wem gehört. Schlimmer als ein tausendteiliges Puzzle. Sie werden wohl die ganze Nacht damit verbringen. Mit Sicherheit wissen wir nur, dass es sich um Menschen handelt, und zwar um Erwachsene. Leider ist das wohl die einzige Information, mit der Sie abreisen werden, Kommissar. Also nicht mit viel.«
Sharko schloss jedes Mal, wenn der kühle Luftzug sein Gesicht streifte, die Augen.
» Was ist der Vermisstenkartei zu entnehmen?«
» Zu früh, um etwas dazu zu sagen. Ich warte auf den Bericht des Rechtsmedizinischen Instituts zu Datierung und körperlichen Charakteristika der Leichen. Wir wissen aber schon jetzt, dass weder in der Region noch irgendwo im Land am selben Ort mehrere Menschen gleichzeitig verschwunden sind.«
» Und außerhalb des Landes? Was sagt Interpol?«
» Darum kümmern wir uns zu gegebener Zeit. Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen. Das Wichtigste im Moment ist herauszufinden, womit wir es hier überhaupt zu tun haben. Ich will mich gerne bei Interpol erkundigen, aber zunächst einmal müssen wir doch wissen, welche Informationen wir brauchen.«
Er verschränkte die Arme und sah zu der getönten Scheibe. Das Zentralkommissariat, ein großer Kasten aus Glas und Stahl, hob sich von den anderen Gebäuden am linken Seine-Ufer ab. Dann wandte sich Péresse wieder seinem Pariser Kollegen zu.
» Und was sind Ihre ersten Schlussfolgerungen?«
Normalerweise, wenn er über gute Basisinformationen verfügte, stützte sich Sharko zur Profilerstellung vorrangig auf vier Elemente: den Tatort, den Modus Operandi, die psychische Verfassung des Mörders während des Akts des Tötens und seinen psychischen Zustand im normalen Alltag. Doch im Moment verfügte er über keinerlei präzise Anhaltspunkte. Die einzig plausible Hypothese war, dass die Opfer nicht am Leichenfundort getötet worden waren. Denn Schädeldecken sägt man im Allgemeinen nicht an der nächsten Straßenecke auf.
» Um ehrlich zu sein, kann ich nicht viel dazu sagen. Doch es könnte sehr interessant werden,
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