Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
den Mund der Kleinen. Die Ärzte hatten gesagt, sie müsse hartnäckig sein, Juliette müsse essen. Aber das war leichter gesagt als getan.
» Na komm, bitte, streng dich ein bisschen an.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf und fing an zu weinen. Ihre Wangen waren eingefallen, und der Teint hatte einen grünlichen Ton angenommen. Lucie schob den Wagen mit dem widerwärtigen Erbsenpüree beiseite und zog ihre Tochter an sich. Sie spürte, wie sich die kleinen kraftlosen Arme um ihren Rücken legten: Es war schwer zu ertragen, ein sonst so fröhliches, strahlendes Kind abgemagert in einem Pyjama, der zu groß geworden war, und mit einer Infusionsnadel im Arm zu sehen.
» Das ist nicht schlimm, mein Liebes.«
» Ich will zu Clara, Maman.«
Seit zwei Tagen war sich Lucie der Tragweite ihres Irrtums bewusst. Sie hatte lange gezögert, die Zwillingsschwester in ihr erstes Freizeitlager im Département Isère fahren zu lassen. Aber Clara hatte sich so sehr auf die Ferien mit ihren Freundinnen gefreut.
» Bald, Juliette, bald. Sie schickt dir auch eine schöne Postkarte, das hat sie versprochen.«
Lucie überzeugte sich, dass niemand vom Pflegepersonal in der Nähe war, und zog zwei Schokokekse aus ihrer Tasche.
» Und magst du das?«
Juliette nickte schwach.
» Darf ich denn?«
» Natürlich. Aber erzähl es nicht weiter, ja? Komm, schlag ein.«
Mit einem kleinen Lächeln legte sie die Hand in die ihrer Mutter und aß die beiden Kekse. Glücklich, dass ihre Tochter etwas im Magen hatte, ließ Lucie die Verpackung verschwinden.
Die Krankheit hatte Juliette so sehr geschwächt, dass sie sich gleich wieder hinlegen musste. Als die Schwester kam, um die Nahrungsaufnahme festzuhalten, verzog sie das Gesicht und notierte: » Zwei Löffel Püree, ein halber Zwieback, kein Schinken.« Mit anderen Worten, die Infusion würde bleiben, und eine Entlassung rückte in weite Ferne.
Erschöpft verfolgte Lucie die Nachrichten im Fernsehen, während sie darauf wartete, dass ihre Tochter einschlief.
Es wurde über den grausigen Fund an der Pipeline-Baustelle in der Haute-Normandie berichtet. Mehrere Leichen mit aufgesägten Schädeldecken. Ein Profiler war vor Ort, man sah sein Gesicht auf dem Bildschirm. Ein kräftiger Typ, mit der Statur eines Bullen und ganz gewiss nicht der eines Psychologen. Welche Ausbildung hatte er erhalten, welche Kurse besucht? Hatte er es schon mit Serienkillern zu tun gehabt? In gewisser Hinsicht beneidete Lucie ihn. Diese Leichen mit den aufgesägten Schädeln, das war ein Fall, der sie maßlos interessiert hätte. Der Reiz der Entdeckung, diese Treibjagd auf einen gefährlichen, perversen Psychopathen. Aber, Herrgott noch mal, es war Hochsommer, und sie war im Urlaub. Eigentlich sollte sie sich jetzt erholen und amüsieren. Doch an diesem Abend, den sie allein mit ihrer Tochter in irgendeinem Krankenhaus verbrachte, fühlte sie sich meilenweit von der fröhlichen Ferienwelt entfernt.
Lucie legte das neue Plüschtier, einen blauen Elefanten, den ihre Mutter mitgebracht hatte, neben Juliette, informierte die Krankenschwester, dass sie sich kurz entfernen würde, und ging zum Flügel Salengto, der etwa hundert Meter von der Kinderstation entfernt war. Doktor Tournelle hatte Neues über Ludovic Sénéchal zu berichten.
Er empfing sie in einem großen Raum, wo man durch eine Glasscheibe einen Scanner und andere ultramoderne Ausstattung überblickte. An einer Leuchttafel bemerkte Lucie Röntgenbilder, auf dem Tisch Dokumentationen und Darstellungen des Auges, des Nervensystems und des Gehirns. Der Arzt rieb sich nervös das Kinn. Anders als am Morgen lagen seine Haare am Kopf an, und die Schatten unter seinen Augen waren noch tiefer. Er sah jetzt gar nicht mehr so attraktiv aus– nur ein von der Arbeit erschöpfter Mann wie jeder andere auch.
» Wir haben den ganzen Tag Untersuchungen durchgeführt. Vor knapp einer Stunde wurde Ludovic Sénéchal in die psychiatrische Abteilung nach Freyrat überwiesen.«
Lucie fiel aus allen Wolken.
» In die psychiatrische Abteilung? Warum denn das?«
Tournelle nahm seine Brille ab und massierte sich die Schläfen.
» Ich will versuchen, es auf einfache Weise zu erklären: Ludovic Sénéchal ist nicht im physiologischen Sinn des Wortes erblindet. Wie ich Ihnen schon heute Morgen gesagt habe, weisen Pupillenreflex und Augenstruktur keine nennenswerte Abweichung auf. Trotzdem ist es dem Patienten unmöglich, den Blick zu fixieren und einen visuellen Kontakt
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