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Öffne die Augen: Thriller (German Edition)

Öffne die Augen: Thriller (German Edition)

Titel: Öffne die Augen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franck Thilliez
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Bild. Ein streng gekleidetes, lächelndes Mädchen saß auf einer Schaukel. Die Szene war in Schwarz-Weiß gedreht und stumm, obwohl die Kleine bisweilen zu sprechen schien. Sie hatte langes helles Haar, war vermutlich blond und strahlte vor Lebensfreude. Ihre Augen schienen das Licht einzufangen, die Schatten der Bäume tanzten auf ihrer Haut. Aufnahmewinkel, Beleuchtung und der Ausdruck, den die Kamera auf dem kindlichen Gesicht eingefangen hatte, deuteten darauf hin, dass es sich um das Werk eines Profis handelte. Häufig endeten die Schwenks– vermutlich wurde mit einer Handkamera gedreht– auf den Augen des Kindes. Sie waren hell, unschuldig und voller Leben. Sie blinzelten, die Pupille zog sich zusammen und öffnete sich wieder wie eine Blende. Der weiße Kreis blieb am oberen rechten Bildrand, und Lucie hatte Mühe, den Blick von ihm abzuwenden. Nicht weil er sie anzog, sondern eher, weil er sie störte. Ohne dass sie gewusst hätte, warum, spürte sie ein Kribbeln im Bauch. Die Szene mit dem durchschnittenen Auge war ihr unter die Haut gegangen.
    Es folgten mehrere kurze Einstellungen, die auf das Kind ausgerichtet waren. Unzusammenhängende Sequenzen, die weder räumlich noch zeitlich zu situieren waren, ganz so wie im Traum. Manche Bilder waren unscharf, wahrscheinlich wegen der schlechten Materialqualität. Vom durchschnittenen Auge ein Wechsel zur Schaukel, von der Schaukel auf die Hand des Kindes, die mit Ameisen spielte. Großaufnahme des Mundes, der kaute, und der Lider, die sich hoben und senkten. Eine andere Aufnahme, die zwei, drei Minuten lang zeigte, wie sie zärtlich zwei kleine Kätzchen im Gras streichelte. Sie drückte sie an sich und küsste sie, während sich rundherum– Lucie fragte sich, durch welche Technik– dichter Nebel ausbreitete. Als die Kleine die Augen zur Kamera hob, sah man, dass sie nicht schauspielerte. Sie lächelte verschwörerisch und sprach mit jemandem, den sie kannte. Einmal näherte sie sich der Kamera und drehte sich lange im Kreis. Die Kamera begleitete ihren Tanz und drehte sich ebenfalls, was inmitten dieses Nebels beim Zuschauer ein Gefühl von Schwindel erzeugte.
    Die folgende Sequenz: Etwas im Blick der Kleinen hatte sich verändert. Eine anhaltende Trauer. Das Bild war sehr dunkel geworden. Um die Kleine herum senkten sich Nebelschwaden. Wie um sie zu necken, näherte sich die Kamera und zog sich wieder zurück, während das Kind sie mit vorgestreckten Händen verscheuchte wie ein Insekt. Lucie hatte das Gefühl, nicht das Recht zu haben, sich den Film anzusehen. Sie fühlte sich überflüssig wie ein Voyeur, der heimlich ein Spiel, vielleicht zwischen Vater und Tochter, beobachtete.
    Völlig unvermittelt eine neue Sequenz. Lucie riss die Augen auf, um alle Details der Szenerie aufzunehmen: eine eingezäunte Wiese, dunkler nebelverhangener, bedrohlicher Himmel, der nicht wirklich natürlich wirkte– handelte es sich um einen Spezialeffekt? Am Ende der Weide wartete das Kind mit hängenden Schultern. In der rechten Hand hielt es ein Fleischermesser, das in den kleinen unschuldigen Fingern riesig wirkte.
    Zoom auf ihre Augen. Sie starrten ins Leere, die Pupillen schienen erweitert. Lucie spürte, dass irgendetwas die Kleine verstört hatte. Die Kamera, die auf der anderen Seite des Zauns stand, schwenkte schnell nach rechts zu einem wütenden Stier. Das gewaltige, kraftvolle Tier hatte Schaum vor dem Maul, scharrte mit den Hufen. Die Hörner waren vorgestreckt wie zwei Spieße.
    Lucie hielt die Hand vor den Mund. Er würde doch nicht…
    Sie stützte sich auf die Lehne eines Kinosessels und hob den Kopf zur Leinwand. Ihre Fingernägel bohrten sich in das Kunstleder.
    Plötzlich kam eine Hand ins Bild und hob einen Riegel an. Der Ausführende hatte es vorgezogen, außerhalb des Bildausschnitts zu bleiben. Das Gatter öffnete sich, und das erregte Tier rannte darauf zu. Es verkörperte Kraft und Gewalttätigkeit. Wie viel mochte es wiegen? Eine Tonne vielleicht? Es blieb mitten auf der Weide stehen, fuhr dann herum und schien sich auf das Mädchen zu konzentrieren, das sich nicht vom Fleck rührte.
    Lucie überlegte kurz, ob sie in die Kabine gehen und die Vorführung abbrechen sollte. Das war kein Spiel mehr, hier ging es nicht mehr um Schaukeln, Lächeln und Vertrautheit. Nein, man versank im Unfassbaren. Lucie presste die Hand vor den Mund und vermochte den Blick nicht von dieser verteufelten Leinwand abzuwenden. Der Film sog sie förmlich auf. Immer

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