Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
schwärzere Wolken zogen am Himmel auf, und alles wurde dunkel, wie um das tragische Finale anzukündigen. In diesem Augenblick hatte Lucie den Eindruck, einer Inszenierung beizuwohnen: Das Gute gegen das Böse. Wobei das Böse unverhältnismäßig, übermächtig und unschlagbar war. David gegen Goliath.
Der Stier ging zum Angriff über.
Das Fehlen von Worten oder Musik machte den Film noch beklemmender. Man ahnte den Lärm, den das Tier beim Laufen machte, sein Schnauben. Die Kamera hatte jetzt beide eingefangen: links den Stier, rechts das Mädchen. Der Abstand zwischen dem Monster und der reglosen Kleinen verringerte sich. Dreißig Meter… zwanzig. Wieso rührte sie sich nicht vom Fleck? Warum lief sie nicht schreiend davon? Lucie erinnerte sich kurz an die erweiterten Pupillen. Drogen, Hypnose?
Er würde sie aufspießen.
Zehn Meter. Neun, acht…
Fünf Meter.
Plötzlich bremste der Stier, seine Muskeln verkrampften sich, mit den Hufen riss er Erdbrocken aus dem Boden. Einen Meter von seinem Ziel entfernt, erstarrte er vollständig. Lucie hielt den Atem an, sie glaubte, das Bild sei stehen geblieben. Gleich würde es weitergehen, das Drama würde zwangsläufig seinen Lauf nehmen. Doch nichts geschah. Dabei keuchte das Monster noch immer, Schaum vor dem Maul. In seinen wütenden Augen las man den Willen, sich auf sie zu stürzen, zu töten, doch sein Körper verweigerte den Dienst.
Gelähmt war das Wort, das am ehesten auf diesen Zustand zutraf.
Die Kleine starrte ihn unverwandt an. Dann trat sie vor, direkt unter das Maul des Stiers, der vierzig, fünfzig Mal schwerer war als sie selbst. Völlig emotionslos hob sie die Klinge und durchtrennte seine Kehle mit einem glatten Schnitt. Dunkle Flüssigkeit schoss aus der Wunde, und die Bestie sank, wie von einem besessenen Matador besiegt, in einer Staubwolke auf die Seite.
Plötzlich wurde die Leinwand schwarz wie am Anfang, langsam verschwand der weiße Kreis in der oberen rechten Ecke.
Ein Knistern erfüllte den Raum wie ein Applaus des Lichtes, um dem Film seine Reverenz zu erweisen.
Lucie stand reglos da. Sie war innerlich so aufgewühlt, dass sie zu frieren begann. Nervös rieb sie sich die Stirn. Hatte sie wirklich einen wütenden Stier gesehen, der reglos vor einem kleinen Mädchen stehen blieb, um sich ohne jegliche Reaktion abstechen zu lassen? Und das Ganze in einer einzigen langen Einstellung, offenbar ohne Schnitt?
Fröstelnd ging sie in die Vorführkabine und drückte entschlossen den Stoppknopf. Das Surren verstummte, und die Neonröhre flammte auf. Lucie fühlte sich unendlich erleichtert. Was für ein Wahnsinniger hatte ein solches Delirium drehen können? Sie sah wieder den trostlosen Nebel vor sich, der sich auf der Leinwand ausbreitete, die Einstellungen, die die Augen zeigten, die Anfangs- und Schlussszene von unsäglicher Gewalt. In diesem Kurzfilm gab es etwas, das den gängigen Horrorstreifen fehlte: Realismus. Das Mädchen, sieben oder acht Jahre alt, hatte nichts von einer Schauspielerin. Oder sie war– im Gegenteil– ein überragendes Talent.
Als Lucie gerade wieder hinaufgehen wollte, hörte sie Geräusche im Erdgeschoss. Das Knirschen von Sohlen auf zerbrochenem Glas. Hatte der Film sie derart mitgenommen, dass sie Halluzinationen hatte? Langsam und vorsichtig stieg sie Stufe für Stufe hinauf und gelangte schließlich zum Eingang.
Die Haustür stand einen Spaltbreit offen.
Lucie, die hätte schwören können, sie hinter sich abgesperrt zu haben, stürzte zur Tür.
Draußen war keine Menschenseele.
Verblüfft ging sie ins Haus zurück und sah sich aufmerksam um. Auf den ersten Blick war nichts durchsucht oder verändert worden. Sie folgte dem langen Flur und nahm alle Räume in Augenschein. Bad, Küche, Arbeitszimmer.
Das Arbeitszimmer… dort lagerte Ludovic eine Unmenge von Filmkopien.
Auch diese Tür war nur angelehnt. Lucie trat vor die Regale, in denen die Rollen aufgestapelt waren. Etliche Schachteln lagen am Boden. Überall herausgerissene Filme. Der Polizistin fiel auf, dass es sich nur um jene handelte, die keine Beschriftung trugen– weder einen Titel noch den Namen des Regisseurs oder das Produktionsjahr.
Jemand war hier gewesen und hatte etwas ganz Bestimmtes gesucht.
Einen anonymen Film.
Ludovic hatte ihr erzählt, er habe am Vortag bei einem Sammler Filme gekauft, unter anderem den, den sie gerade angesehen hatte. Sie zögerte und schaute sich um. Es schien ihr unnötig, ihre Kollegen zu rufen. Kein
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