Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
zu gehen. Bisweilen auch die Grenzen zu überschreiten.
Sie hatte nur bis zwanzig Uhr Zeit, um in Paris die richtige Kontaktperson und die verlangten Informationen aufzutreiben.
Kapitel 14
In der Wohnung eines Schizophrenen herrscht für gewöhnlich Chaos. Die innere Unordnung der gespaltenen Persönlichkeit manifestiert sich oft in äußerer Unordnung, sodass der eine oder andere am Ende die Dienste einer Putzfrau in Anspruch nimmt. Die Wohnung eines Profilers dagegen erfordert eine gewisse Klarheit, Abbild eines klaren Geistes, der daran gewöhnt ist, Informationen in Schubladen zu ordnen, wie man Schuhe in Spezialschränken abstellt. Sharkos Wohnung zeigte beide Extreme. Während sich die Tassen in seiner Spüle türmten und die ungebügelten Anzüge und Hemden in einer Ecke des Bads ihr Dasein fristeten, vermittelten die restlichen sauberen Räume den Eindruck, dass hier eine friedliche Familie lebte. Viele gerahmte Fotos, eine kleine Grünpflanze, ein Kinderzimmer mit alten Plüschtieren, die gelbliche Tapete mit Delphinen verziert.
Auf dem Boden dieses letzten Raums schließlich das Schienennetz einer Modelleisenbahn mit den alten Lokomotiven– das Ganze gesäumt von Landschaftselementen aus Moos, Kork oder Harz. Dieser Miniaturwelt wieder Leben einzuhauchen, die einst Hunderte– Tausende– von Stunden der Montage, Bemalung, Kollage und Klebearbeiten erfordert hatte, war das Erste gewesen, was Sharko nach seiner Rückkehr aus Rouen zwei Stunden zuvor getan hatte. Die Lokomotiven pfiffen fröhlich und verbreiteten ihren guten Dampfgeruch, vermischt mit dem Parfum seiner Frau Suzanne, von dem er ein paar Tropfen in den Behälter gegeben hatte. Wie nicht anders zu erwarten, saß Eugénie mitten im Schienennetz. Sie lächelte, und in diesem präzisen Augenblick war der Bulle froh, sie an seiner Seite zu spüren.
Als sie beschloss zu verschwinden, erhob sich Sharko und zog einen staubbedeckten Koffer von einem Schrank. Sobald er geöffnet war, stiegen daraus Gerüche der Vergangenheit auf, Gerüche voller Nostalgie, die Sharko das Herz zusammenschnürten.
Der Flug Orly–Kairo mit Egyptair war für den nächsten Morgen vorgesehen. Economyclass, wieder mal typisch! Es war ausgemacht, dass ihn der Attaché des französischen Konsulats abholen würde. Sharko hatte sich über Internet nach den lokalen Wetterbedingungen erkundigt: Die Flammen des Himmels loderten über dem Land, eine wahre Sauna, was die Dinge nicht vereinfachen würde. Er füllte den Koffer mit unifarbenen kurzärmeligen Hemden, zwei Badehosen– man wusste ja nie–, zwei Leinenhosen und Bermudas. Er vergaß auch seinen Kassettenrekorder nicht, seine Cocktailsauce, seine kandierten Maronen und seine Ova-Hornby-Lokomotive mit dem schwarzen Holz- und Kohletender.
In dem Moment, als er den Koffer schloss, halb gefüllt nur, um Platz für Geschenke zu lassen, klingelte das Telefon. Es war Leclerc. Sharko hob lächelnd ab.
» Eine Stange Zigaretten, ägyptischer Whisky, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann, Räuchergefäß für Kathia… Und was fällt dir sonst noch ein? Eine Papp-Pyramide vielleicht?«
» Hast du Zeit, um kurz bei der Gare du Nord vorbeizuschauen?«
Sharko sah auf seine Uhr. Halb sieben. Gewöhnlich aß er eine halbe Stunde später zu Abend, las dabei die Zeitung oder löste Kreuzworträtsel und hasste es, wenn seine Gewohnheiten über den Haufen geworfen wurden.
» Kommt darauf an.«
» Eine Kollegin von der Kripo in Lille möchte dich sprechen. Sie sitzt schon im TGV .«
» Soll das ein Witz sein?«
» Offenbar gibt es einen Bezug zu unserem Fall.«
Schweigen.
» Welcher Art?«
» Einer höchst seltsamen und unerwarteten Art. Sie hat mich auf meiner direkten Leitung angerufen. Hör dir an, ob es nur Unsinn ist. Auf alle Fälle habt ihr beide schon mal eines gemeinsam: Normalerweise seid ihr im Urlaub.«
» Und das nennst du Gemeinsamkeit!«
» Ihr Zug trifft um neunzehn Uhr einunddreißig ein. Sie trägt eine lange blaue Bluse und eine beigefarbene Caprihose. Sie erkennt dich auf alle Fälle, sie hat dich im Fernsehen gesehen. Bist jetzt fast schon ein Star.«
Sharko massierte sich die Schläfe.
» Kann ich gerne drauf verzichten. Erzähl mir von ihr.«
» Ich schicke dir ein paar Einzelheiten rüber. Druck sie aus und mach dich auf die Socken.«
Sharko hatte die elektronischen Flugtickets vor sich liegen.
» Gut, Chef. Zu Befehl, Chef. Knapp zwei Tage in Kairo, ganz schön kurz, oder?«
» Die
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