Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Freuden des Wiedersehens, doch für Sharko würde es nie ein Wiedersehen geben.
Suzanne… Eloise…
Eine Flut von Reisenden ergoss sich aus dem TGV Lille-Paris, der soeben eingetroffen war. Farbenmeer, Stimmengewirr, Quietschen von Rollkoffern. Zwischen den Taxifahrern, die Namensschilder hochhielten, reckte Sharko den Hals. Er entdeckte sie sofort in der Menge, als würde er sie längst kennen. Sie näherte sich lächelnd. Mit ihrer zierlichen Figur und ihrem schulterlangen Haar kam sie ihm zerbrechlich vor, und ohne ihr angestrengtes Lächeln und diese Müdigkeit, die man bei manchen Polizisten antraf, hätte er sie vielleicht für eine junge Frau gehalten, die nach Paris gekommen war, um einen Job zu suchen.
» Hauptkommissar Sharko? Lucie Henebelle, Kommissariat Lille.«
Kurzes Händeschütteln. Sharko bemerkte, dass sie den Daumen oben hatte. Sie wollte das Terrain kontrollieren oder eine Form von spontaner Überlegenheit zum Ausdruck bringen. Er erwiderte ihr Lächeln.
» Le Némo, Rue des Solitaires in der Altstadt von Lille– gibt es das noch?«
» Ich glaube, es steht zum Verkauf. Sind Sie aus dem Norden?«
» Zum Verkauf? Mist… die besten Dinge verschwinden am Ende doch immer. Ja, ich komme aus der Region, doch das liegt weit zurück. Gehen wir ins Terminus Nord. Nicht sehr nobel, aber gleich gegenüber.«
Sie traten ins Freie und fanden einen Schattenplatz auf der Terrasse der Brasserie. Vor ihnen erstreckte sich eine endlose Reihe von Taxis. Der ganze Bahnhof erweckte den Eindruck eines Schmelztiegels, in dem Weiße, Schwarze, Araber und Asiaten aufeinandertrafen. Lucie nahm ihren Rucksack ab, bestellte eine Flasche Perrier, Sharko bestellte ein Bier mit einer Zitronenscheibe darin. Die junge Polizistin war beeindruckt von ihrem Gegenüber, vor allem von seiner Statur: Bürstenschnitt, Blick eines alten Kriegers, stattliche Figur. Etwas Vielschichtiges ging von ihm aus, das schwer zu deuten war. Sie versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen.
» Ich habe gehört, Sie seien Profiler. Das muss ein aufregender Beruf sein.«
» Kommen wir gleich zur Sache, es ist schon spät. Was haben Sie für mich?«
Direkt wie die Faust eines Boxers, der Typ. Lucie wusste nicht, mit wem sie es zu tun hatte, wohl aber, dass er niemals etwas geben würde, ohne auch zu nehmen. So funktionierte jeder in dem Beruf. Du gibst mir etwas, dann bekommst du etwas von mir. Deshalb erzählte sie ihre Geschichte ganz von vorn. Der Tod des belgischen Sammlers, die Entdeckung des Films, die pornografischen und brutalen Bilder, die darin versteckt waren, der Unbekannte im Fiat, der genau diesen Film zu suchen schien. Sharko zeigte nicht die geringste Emotion. Verborgen hinter ihrem Panzer, mussten Typen wie er in ihrer Laufbahn so manches gesehen haben. Lucie vergaß nicht, den mysteriösen Anruf mit Kanada am frühen Nachmittag zu erwähnen. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte, während der Kellner die Getränke servierte.
» Ich habe mir im Internet alle Fernsehnachrichten der Woche angesehen. Am Montagmorgen entdecken Bauarbeiter die fünf Leichen, und am Montagabend wird auf dem bevorzugten Sender des Sammlers darüber berichtet. Es ist von mehreren Leichen die Rede, die mit aufgesägten Schädeldecken in der Erde gefunden wurden.«
Sie zog ein Notizbuch aus dem Rucksack. Sharko bemerkte ihre Genauigkeit und die gefährliche Leidenschaft, die ihr innewohnte. Die Augen eines Polizisten durften niemals leuchten, und die ihren glänzten allzu sehr, während sie von dem Fall erzählte.
» Ich habe mir Folgendes notiert: An besagtem Montagabend begann die Reportage über den Fund der Leichen mit den geöffneten Schädeln um zwanzig Uhr fünf. Um zwanzig Uhr acht hat der alte Szpilman in Kanada angerufen. Ich konnte auf seinem Handy die Dauer des Gesprächs feststellen. Es dauerte elf Minuten, das heißt, er hat um zwanzig Uhr neunzehn aufgelegt. Gegen zwanzig Uhr fünfundzwanzig ist er bei dem Versuch, unseren Film an sich zu nehmen, verunglückt.«
» Haben Sie die anderen Anrufe von Szpilman überprüfen können?«
» Ich habe meine Abteilung noch nicht auf den Fall angesetzt. Es hätte Stunden gedauert, denen alles zu erklären. Vorrang hatte, Sie zu treffen.«
» Warum?«
Lucie legte ihr Handy vor sich auf den Tisch.
» Weil dieser mysteriöse Kanadier in knapp fünfzehn Minuten anruft. Und wenn ich ihm nichts Glaubhaftes vorzusetzen habe, können wir das Ganze vergessen.«
» Sie hätten
Weitere Kostenlose Bücher