Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Dort gibt es ein Krankenhaus, das Salam-Zentrum.«
» Ein Krankenhaus?«
» Sie suchen nach einer Gemeinsamkeit zwischen den Opfern, und die finden Sie dort. Die Mädchen sind alle fast gleichzeitig in städtische Krankenhäuser eingewiesen worden. Das war 1993, also im Jahr vor ihrem Tod. Und eine von ihnen, Boussaïna Abderrahemane, war im Salam-Zentrum.«
» Aus welchem Grund?«
» Das weiß mein Onkel nicht. Mahmud hat ihm nichts Genaueres gesagt. Aber wir werden es sicher bald herausfinden.«
Sharkos Ahnung bestätigte sich also: Der Mörder gehörte zum medizinischen Umfeld– die chirurgische Säge, das Ausschälen der Augen, das Ketamin. Und jetzt die Krankenhäuser. Die Spur nahm Form an.
Der Araber griff nach dem Wagenheber und wischte ihn mit einem Tuch ab.
» Pech gehabt, der linke Vorderreifen ist platt. So was soll angeblich bei japanischen Wagen nie vorkommen. Ich repariere das schnell, und dann geht’s los.«
Sharko trat zur Seite, um sich den Schaden anzusehen.
Plötzlich schien sein Schädel zu zerbersten.
Ein heftiger Schlag hatte ihn zu Boden gestreckt.
Benommen versuchte er sich aufzurichten, doch im selben Augenblick wurden seine Arme auf den Rücken gedreht. Das Reißen von Klebeband. Atef fesselte ihm die Hände und stopfte ihm einen Knebel in den Mund. Dann nahm er ihm das Handy ab.
In den Kofferraum gestoßen, hörte Sharko, ehe ihn die Metallklappe definitiv vom Tageslicht trennte:
» Du Hurensohn wirst meinem Bruder folgen.«
Der Wagen fuhr an.
Sharko hatte sofort begriffen, dass er sterben würde.
Kapitel 25
Lucie hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Wie auch hätte sie das Grauen vergessen können, das sie in der bildgebenden Abteilung der Neurologie gesehen hatte? Wie sollte sie nach diesem Einblick in die finstersten Abgründe des Wahnsinns ruhig schlafen? Sie kauerte sich mit ihrem Laptop in eine Ecke des Krankenzimmers und sah sich immer wieder den versteckten Film an, den Beckers ihr auf DVD gebrannt hatte.
Den Film im Film.
Der mit den Kaninchen und den Kindern.
Die Kinder, mein Gott…
Und wieder drückte sie die Playtaste. Sie musste begreifen, was in dieser Zeit, die schon so weit zurücklag, geschehen war; was sich hinter den Aufnahmen verbarg, die mit einer Geschwindigkeit von fünf Bildern pro Sekunde abgespielt wurden. Das führte zu abgehackten Bewegungen und Informationsausfällen zwischen jeder Einstellung. Dennoch meinte man, ansatzweise Kontinuität wahrzunehmen. Durch die wiederholten Sichtungen hatte sich Lucies Blick ganz auf das konzentriert, was sie interessierte, und die überlagernden Bilder einfach ausgeblendet. Sie sah jetzt nur noch einen einzigen Film: den versteckten.
Zwölf Kinder, Mädchen, die dicht aneinandergedrängt, die Arme eng am Körper, dastanden. Sie trugen Pyjamas, die vermutlich weiß und etwas zu groß für ihre zarten Körper waren. Sie rollten mit den Augen, und die Gesichter waren von einer übermächtigen Angst verzerrt. So als würde über ihnen ein heftiges Gewitter niedergehen.
Alle Gesichter bis auf eines… Denn der Blick des Mädchens auf der Schaukel war so ausdruckslos und kalt wie im Angesicht des erstarrten Stiers. Ohne sich zu rühren, stand sie vor der Gruppe wie eine Anführerin.
Dreißig, vierzig kleine Kaninchen hockten zitternd in einer Ecke des Raums, die Ohren angelegt, das Fell gesträubt, die Barthaare bebend. Der Regisseur stand vermutlich in einer anderen Ecke, sodass er sowohl die Kinder als auch die Kaninchen in fünf, sechs Metern Entfernung im Bildfeld hatte.
Die Kleine von der Schaukel blickte plötzlich nach links. Mit Sicherheit sah sie jemanden an, der sich dem Blick des Zuschauers entzog. Die geheimnisvolle Person, die sich außerhalb des Bildfelds aufhielt und alles zu koordinieren schien.
Wer bist du?, dachte Lucie. Warum versteckst du dich? Du möchtest sehen, ohne gesehen zu werden.
Plötzlich bleckte das Mädchen die Zähne. Ihre Züge verzerrten sich. Lucie hatte das Gefühl, die Inkarnation des Bösen vor sich zu sehen. Dann rannte sie wie eine Kriegerin unvermittelt auf die Kaninchen zu, die in alle Richtungen davonhüpften. Mit schnellem Griff packte sie eines im Nacken und riss ihm mit einer Grimasse, vermutlich von einem Schrei begleitet, den Kopf ab. Das Blut spritzte ihr ins Gesicht.
Sie ließ das tote Tier fallen und stürzte sich auf ein anderes. Lucie ballte die Fäuste. Wegen des Gebrülls, das man sich auch ohne Ton gut vorstellen konnte und in dem Hass
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