Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
zu schade… Wirst du sie wieder mitbringen?… Schwester Marie-du-Calvaire hasste Katzen… Ich liebe Katzen… Ja, Kaninchen mag ich auch sehr gerne… Ihnen etwas antun? Warum sagst du das?… Niemals, niemals.«
Lucie machte sich Notizen und war sich der Ironie der Äußerungen bewusst. Niemals würde die Kleine Kaninchen etwas antun können, während die Bilder, die sich genau in diesem Moment hinter der Szene verbargen, zeigten, wie sie zusammen mit elf weiteren Kindern die Tiere massakrierte. Was konnte sie so verändert haben? Sie unterstrich » Schwester Marie-du-Calvaire« dreimal in Rot. Lebte die Kleine in einem Kloster in Montreal? Besuchte sie eine katholische Schule? Befand sie sich an einem Ort, wo Medizin und Religion zusammentrafen?
Die nächste eigenartige Szene: Die Kamera nähert sich dem Mädchen und entfernt sich wieder. Die Kleine ist wütend. Ihre Augen haben sich verändert.
» Lass mich, ich habe keine Lust… Ich bin traurig wegen Lydia, alle sind traurig, und du machst Späße.« Sie verscheucht die Kamera. » Geh weg!«
» Was ist Lydia zugestoßen?«, notierte Lucie. Sie rahmte den Namen ein, während die Kamera die Kleine umkreiste, um den Effekt eines Schwindelgefühls zu erzeugen. Cut. Nächste Szene. Die Weide.
Caroline Caffey hielt den Film an. Sie schluckte, bevor sie weitersprach:
» Danach kommt nichts mehr, abgesehen von den Schreien in der schrecklichen Szene mit den Kaninchen. Noch etwas, was für Sie interessant sein könnte: Beim aufmerksamen Betrachten einiger Szenen habe ich im Gesicht des Mädchens ein paar Details bemerkt: Sie hat sich verändert. Auf manchen Bildern fehlt ihr ein Schneidezahn. Und auch wenn das nicht sehr deutlich zu erkennen ist, sind mehr Sommersprossen dazugekommen. Die Haare haben immer dieselbe Länge. Man hat sie wohl regelmäßig geschnitten.«
» Zwischen Anfang und Ende des Films ist sie also gewachsen«, schloss Kashmareck daraus.
» So ist es. Der Film ist nicht innerhalb einer Woche, sondern sicher innerhalb mehrerer Monate entstanden. Mit fortschreitender Zeit ist um den Mund des Mädchens eine Spannung wahrzunehmen, die zu ihren Worten zu passen scheint. Das Bild ist sehr kurz und wahrscheinlich zu undeutlich, um daraus brauchbare Schlussfolgerungen zu ziehen, aber ich habe den Eindruck, dass sich ihr psychischer Zustand verschlechtert. Kein Lächeln mehr, ein finsteres Gesicht, sie ist cholerisch. In einigen Szenen, die besser ausgeleuchtet sind, sind ihre Pupillen erweitert.«
Lucie drehte ihren Stift zwischen den Fingern. Sie erinnerte sich an die unfassbare Wut der Kinder in dem Raum mit den Kaninchen.
» Drogen… oder Medikamente…«
Caroline nickte.
» Das ist tatsächlich sehr wahrscheinlich.«
Sie schloss ihr Notizbuch und stand auf.
» Das ist alles, was ich dazu beitragen kann. Ich schicke Ihnen die Analyse zu, sobald alles getippt ist. Messieurs, Mademoiselle…«
Sie tauschte mit Kashmareck einen Blick, der bedeutete, dass sie ihn draußen erwartete. Keine Frage über das laufende Verfahren, nicht die geringste Gefühlsregung angesichts des Gezeigten. Absolut professionell. Nachdem sie den Raum verlassen hatte, klatschte der Hauptkommissar in die Hände.
» Denken Sie über das nach, was sie uns gerade erzählt hat. Und ich glaube, wir können uns alle bei Henebelle für diesen wunderbaren Fall mitten im Sommer bedanken.«
Alle Köpfe wandten sich zu Lucie, vereinzelte Sticheleien waren zu hören. Lucie reagierte mit einem Lächeln. Was sollte sie sonst tun? Kashmareck schloss mit einem letzten Appell:
» Weiß jeder, was er zu tun hat?«
Schweigend wurde genickt.
» Na dann, an die Arbeit.«
Lucie blieb kurz allein vor dem Computer und betrachtete das Standbild des Mädchens auf der Schaukel. Sie fuhr mit dem Finger über den erstarrten Mund. Es sah aus, als würde die Kleine sie anlächeln. Sie strahlte so viel Unschuld aus.
Angesichts all der ungelösten Fragen dachte Lucie wieder an Sharko. Sie machte sich sogar Sorgen. Warum dieses Schweigen? Sie schaute auf ihr Handydisplay… Wer war dieser Profiler, an den sie immer wieder denken musste, wirklich? Was für eine Vergangenheit hatte er, wo hatte er Dienst getan? Welche schrecklichen Fälle hatte er in jungen Jahren bearbeitet? Sie rief bei der DAPN , der Verwaltungszentrale der Polizei, an. Dort konnte man Informationen über jeden Polizeibeamten Frankreichs einholen. Über seine abgeschlossenen oder laufenden Fälle, eventuelle Bemerkungen seiner
Weitere Kostenlose Bücher