Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Sie war in den Vierzigern, hatte lange Beine und ein Gesicht wie eine russische Puppe und blondes Haar. Rasch warf sie einen prüfenden Blick in die Runde und ließ sich auf dem nächstbesten Stuhl nieder. Dann öffnete sie ein Notizbuch. Ihre entschlossenen Gesten ließen vermuten, dass sie es gewohnt war, größere Gruppen zu bändigen. Kurz erklärte sie im Tonfall eines Vortrags, dass sie für das Militär, den Zoll und die Polizei arbeitete, insbesondere im Kampf gegen den Terrorismus und bei Verhandlungen. Eine Koryphäe ihres Fachs. Lucie hatte noch nie so viel Aufmerksamkeit um sich herum wahrgenommen. Der Testosteronspiegel stieg.
Caroline Caffey bediente sich eines Laptops, dessen Inhalt über einen Overheadprojektor auf einen großen Bildschirm projiziert wurde.
» Die Lippenanalyse dieses Films war nicht einfach. In Kanada gibt es wie in Frankreich verschiedene Dialekte zwischen dem Argot und der Hochsprache. Das kleine Mädchen dürfte zum französischsprachigen Bevölkerungsteil des Landes gehören, denn sie spricht das Quebecer Französisch oder genauer gesagt Joual, wie ich glaube, das aus der Sprache der urbanen Volkskultur in der Gegend von Montreal hervorgegangen ist. Diese Mundart ähnelt sehr stark der, die wir aus dem Norden von Bordeaux kennen. Die Kleine sagt beispielsweise End’ssour für en dessous und dehnt viele Vokale.«
Mit dem Cursor ging sie an den Anfang des Films, wo die erwachsene Schauspielerin aufrecht dastehend in ihrem Chanel-Kostüm zu sehen war. Es war kurz vor der Stelle, an der ihr Augapfel mit dem Skalpell aufgeschlitzt wurde. Ihre Lippen begannen, sich zu bewegen. Caroline Caffey ließ den Film weiterlaufen und übersetzte simultan:
» Sie spricht mit dem Kameramann, sie sagt: ›Öffne mir die Tür zu den Geheimnissen.‹«
» Spricht sie europäisches Französisch oder Quebecer Französisch?«, fragte Lucie.
Caffey bedachte sie mit einem langen gleichgültigen Blick.
» Mademoiselle?«
» Henebelle. Lucie Henebelle.«
Sie hatte sie Mademoiselle genannt. Verdammt gute Beobachterin.
» Schwer zu sagen, Mademoiselle Henebelle, denn dies sind ihre einzigen Worte. Ich denke aber, es ist europäisches Französisch. Insbesondere wegen des Wortes ›Geheimnis‹, das sie in kanadischem Französisch offener gesprochen hätte.«
Lucie notierte in ihrem Moleskine-Notizbuch: » Erwachsene Schauspielerin: Französin« und » Kleines Mädchen auf der Schaukel: Montreal«. Caffey ließ den Film vorlaufen, bis sie zu der Schaukelszene kam. Das Kindergesicht strahlte vor Freude. Der Ausschnitt war so knapp, dass man die Umgebung nicht wahrnehmen konnte. Der Kameramann wollte nicht, dass man die Örtlichkeit erkennt. Als die Kleine zu sprechen anfing, dolmetschte Caffey sofort:
» Schaukeln wir morgen wieder?… Kommst du mich bald wieder besuchen?… Lydia würde auch gerne schaukeln… Warum kann sie nicht herauskommen?«
Das Mädchen schaukelte hoch hinauf, es war voller Freude. Die Kamera blieb auf das Gesicht, auf die Augen gerichtet, spielte mit verschiedenen Einstellungen, wodurch eine besondere Dynamik in Gang kam. Offenbar bestand eine Vertrautheit zwischen dem Kameramann und der Kleinen, sie kannten einander gut. Je länger Lucie die Bilder betrachtete, desto mehr fühlte sie sich bis ins Innerste von diesem unschuldigen Kind ergriffen. Eine unverständliche Bindung, eine Art mütterlicher Zuneigung. Sie versuchte, dieses gefährliche Gefühl, so gut es ging, zu verdrängen.
Die nächste auswertbare Szene. Großaufnahme der Lippen des Kindes, das an einem langen Holztisch Kartoffeln und Schinken aß. Caffey begann wieder zu entziffern:
» …ich habe sie reden hören. Viele Leute sagen Böses über dich und über den Doktor… Ich weiß, dass sie lügen, dass sie das nur erzählen, um uns wehzutun. Ich mag diese Leute nicht, ich werde sie niemals mögen.«
Die Sätze, die Caroline Caffrey sprach, schlugen in die Stille ein. Die Worte und der Tonfall, den sie wählte, verliehen dem Film eine unheilvolle Dimension. Man spürte das nahende Desaster, das Unwetter, das jeden Moment losbrechen würde. Lucie schrieb das Wort » Doktor« und kreiste es ein.
Die Sequenz mit dem Mädchen und den jungen Katzen im Gras. Die Kleine lächelte und streichelte liebevoll die beiden Tierchen. Lucie dachte an den anderen, den verborgenen Film, der sich genau in diesem Augenblick hinter den Bildern verbarg und in die Gehirne eindrang.
» Ich würde sie gerne behalten… Das ist
Weitere Kostenlose Bücher