Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Disziplinarstrafen. Sie kommen aus einem einschlägigen Milieu, darauf deuten die zahlreichen alten Brüche hin, die man sich beispielsweise bei Schlägereien zuzieht. Ganz zu schweigen von den Tätowierungen, Ausdruck des Wunsches, sich eine Identität zu schaffen, Stärke zu zeigen oder einem Klan anzugehören. Die Tatsache, dass sich unter ihnen ein Asiat befand, ist ein Indiz dafür, dass es eine zusammengewürfelte Gruppe war, deren Mitglieder sich zuvor nicht zwangsläufig kannten. Diese Männer befinden sich also irgendwo. Sie werden von mindestens zwei anderen Individuen bewacht, die mit Pistolen oder Gewehren bewaffnet sind.«
» Warum zwei?«, fragte Péresse.
» Wegen des Einschlagwinkels der Geschosse und der unterschiedlichen Einschussstellen. Vorn, hinten… Plötzlich läuft die Situation aus dem Ruder. Die jungen Leute drehen durch, werden aggressiv und unkontrollierbar. Wie die Mädchen mit den Kaninchen. Wie die jungen ägyptischen Opfer. Sie werden von einer kollektiven Hysterie ergriffen.«
Leclerc atmete tief durch.
» Eine Aggressivität, die blind macht. Sie sehen rot… unbezähmbare Stiere.«
» Ja genau, wie unbezähmbare Stiere. Man befiehlt ihnen aufzuhören, aber es hilft nichts. Also schießt man auf sie. Die Wachen haben keine andere Wahl. Sie töten oder verletzen sie. Auf irgendeine Art sind unsere Mörder– Profil Arzt und Cineast– sofort auf dem Laufenden, dass sich wieder ein Fall von Hysterie ereignet hat. Also finden sie sich ein und schreiten erneut zur Tat. Ausschälen der Augen, Entnahme der Gehirnmasse. Dann verscharren sie die Leichen in zwei Metern Tiefe…«
» Du bist also der Meinung, dass es sich bei den ägyptischen Mädchen und den fünf Männern um dieselben Täter handelt?«
» Ja, selbst wenn der Modus Operandi große Unterschiede aufweist: In Ägypten wurden die barbarischen Taten an lebendigen Opfern durchgeführt, die dann post mortem verstümmelt wurden. Hier ist die Tötung einfacher.«
Kashmareck hatte so lange mit seiner Zigarette gespielt, bis er sie schließlich abgebrochen hatte.
» Was suchen die Mörder wirklich?«
» Das weiß ich noch nicht. Aber ich glaube, es steht im Zusammenhang mit der kollektiven Hysterie. Auf alle Fälle habe ich nicht den Eindruck, dass wir es mit Einzeltätern zu tun haben, die für sich allein handeln. Irgendjemand hat Atef Ab el-Aal dafür bezahlt, dass er seinen Bruder umbringt, und der Auffindungsort der Leichen von Gravenchon zeugt von großer Professionalität.«
Sharko sah seinen Chef an.
» Könntest du bitte auch Nachforschungen über den Begriff ›Syndrom E‹ einleiten? Das hat der Leiter des Salam-Zentrums im Zusammenhang mit der kollektiven Hysterie erwähnt. Nur ein Wort, an das er sich erinnerte, ohne mehr über die Bedeutung zu wissen.«
Leclerc machte sich Notizen.
» Sehr gut. Also… ich werde eine Zusammenfassung der Sitzung verfassen. Die wichtigsten Aufgaben sind jetzt: Personallisten der humanitären Organisationen zu bekommen, die im März 1994 in Ägypten präsent waren. Das übernehme ich. Sie, Hauptkommissar Péresse, sollten die Spur mit den Menschenhandelsorganisationen weiterverfolgen, man kann nie wissen.«
» Ja, gut.«
» Und Sie, Hauptkommissar Kashmareck…«
» Ich setze meine Arbeit mit den Belgiern fort. Und ich habe mit dem Mord an Claude Poignet ein grässliches Verbrechen zu klären.«
» In Ordnung…« Er wandte sich an Sharko. » Und du…«
Der Hauptkommissar sah auf seine Uhr und machte eine Kopfbewegung in Lucies Richtung.
» Wir fahren nach Marseille. Man hat die Schauspielerin des Films identifiziert, eine gewisse Judith Sagnol, sie hat uns sicher etwas zu erzählen. Henebelle, können Sie uns zum Abschluss etwas dazu sagen?«
Lucie blätterte in ihren Aufzeichnungen.
» Sie ist inzwischen siebzig Jahre alt und lebt in Paris, hält sich aber momentan im Sofitel du Vieux Port in Marseille auf. Sie ist die Witwe und Erbin eines wohlhabenden Anwalts, den sie 1956, also zwei Jahre nach den Dreharbeiten zu dem Film, geheiratet hat. Sie hat in den Fünfzigerjahren in mehreren Pornofilmen mitgewirkt und für Aktfotos posiert, die in Kalendern oder sogenannten Home Movies, Amateur-Super-8-Filmen, erschienen. Nach Aussage des Historikers, der sie identifiziert hat, war diese Frau kein Kind von Traurigkeit. Sie war im kleinen Kreis zu recht gewagten Sexualpraktiken bereit.«
» Hat dieser Historiker eine Ahnung, wem der Film gehört hat?«
» Nicht die
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