Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Schweiß, das ist die Realität.«
Lucie seufzte.
» Kommt es mir nur so vor, oder haben Sie ein Händchen dafür, alles ins Negative zu ziehen?«
Sie nahmen an einem großen runden Tisch Platz. Dann traf auch Hauptkommissar Péresse aus Rouen ein, der in den Pariser Staus stecken geblieben war. Leclerc fasste die Lage kurz zusammen: Es ging darum, die neuen Fakten darzulegen und den Ermittlungsverlauf abzugleichen, damit alle denselben Informationsstand hatten. Als Einstieg spielte der Leiter des OCRVP den Film von 1955 vor– zuerst in seiner Originalversion und dann den Zusammenschnitt der versteckten Bilder. Und wieder war auf den Gesichtern Abscheu und Neugier zu erkennen.
Als Erster ergriff der Hauptkommissar aus Rouen das Wort, um zahlreiche schlechte Neuigkeiten vorzutragen. Die Nachforschungen in den Krankenhäusern, Entzugskliniken und Gefängnissen der Normandie hatten nicht zur Identifikation der vergrabenen Leichen geführt. Auch die Überprüfung der Vermisstenkartei hatte nichts ergeben. Also war die Hypothese, dass es sich um illegale Einwanderer handelte, die wahrscheinlichste Möglichkeit. Sie wurde dadurch untermauert, dass sich ein Asiat unter den Toten befand. Im Moment arbeitete die Rouener Kripo mit anderen Dienststellen zusammen, um verschiedenen Menschenhandelsorganisationen auf die Spur zu kommen. Péresse räumte ein, es könne sich dabei ebenso gut um eine falsche Fährte handeln, doch angesichts der wenigen Indizien gab es im Moment keine andere Spur. Er hoffte, die DNA -Analysen, die in den nächsten Tagen abgeschlossen sein müssten, würden mehr Aufschluss geben.
Kashmareck hatte mehr zu erzählen und berichtete detailliert von den grausamen Morden an Claude Poignet sowie an Luc Szpilman und dessen Freundin. Erste Schlussfolgerungen deuteten darauf hin, dass es sich um dieselben Täter handelte. Ein kräftiger Mann mit Rangerstiefeln und ein weiterer, über den man nichts wusste. Zwei kaltblütige Mörder, organisiert und sadistisch, von denen der eine über medizinische, der andere über cineastische Kenntnisse verfügte. Zwei Gewaltverbrecher, die zu allem bereit waren, um jede Spur, die zu der Filmrolle führte, zu verwischen. Dann erzählte der Liller Hauptkommissar von den Fortschritten der belgischen Ermittler bei den Nachforschungen über Wlad Szpilmans Vergangenheit.
» Über den Vater habe ich gestern Abend sehr aufschlussreiche Informationen erhalten. Zunächst zur Herkunft des Films. Die Kollegen haben bestätigt, dass Szpilman ihn bei der Fédération Internationale des Archives du Film in Brüssel ausgeliehen hat. Wenn ich sage ausgeliehen, meine ich geklaut, denn Szpilman hatte kleptomanische Anwandlungen. Bei der FIAF haben wir etwas sehr Interessantes erfahren. Vor etwa zwei Jahren ist ein Mann gekommen, um den Streifen zu sichten, und der damalige Konservator hat festgestellt, dass er fehlte. Natürlich wusste er nicht, dass Szpilman ihn hatte mitgehen lassen.«
» Vor zwei Jahren? Die Mörder waren also schon damals auf der Suche nach dem Film?«
» Anscheinend. Wissentlich oder unwissentlich hat Szpilman ihnen den Wind aus den Segeln genommen.«
» Und wie ist der Film überhaupt zur FIAF gekommen?«
» Sie hat ihn, zusammen mit etlichen anderen, vom Office National du Film du Canada übernommen, das einen Teil seiner Archive aufgelöst hat. Nach den alten Registern ist er dort 1956 durch eine anonyme Schenkung eingegangen.«
Sharko lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
» Eine anonyme Schenkung…«, wiederholte er. » Kaum gedreht, wird er schon ins Archiv befördert. Und woher wusste der mysteriöse Mann, der auf der Suche danach war, dass er inzwischen bei der FIAF gelandet war?«
Kashmareck blickte auf seine Notizen.
» Da habe ich einen Hinweis. Die meisten Filme sind nach Titel, Jahr und allen anderen auf der Rolle vermerkten Informationen gelistet: Ursprungsland, Filmnummer, Hersteller. Alles ist zentralisiert und auf der Internetseite der FIAF einsehbar. Mit einer Suchmaschine kann man verfolgen, welcher Film ein Archiv verlässt oder in einem anderen Archiv aufgenommen wird. Dann braucht man nur noch die Daten– Jahr, Hersteller, Ursprungsland– einzugeben, um die Suche einzugrenzen. Man kann sich sogar informieren lassen, wenn ein Film das Archiv wechselt. Und genau das ist offenbar hier passiert…«
» Und kann man die Internetbenutzer ausfindig machen, die die Seite konsultiert haben?«, fragte Lucie.
» Leider nicht, die Recherchen
Weitere Kostenlose Bücher