Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
voraus war. Groß, dunkelhaarig, mit Augen so blau wie das Meer. Ein Typ à la Delon.«
Sie trank einen Schluck Champagner, ohne ihn zu genießen.
» Jacques war ein richtiger Experimentalfilmer, der die alten Pfade verließ. Für ihn gab es zwei Arten von Film, einmal die inhaltliche Seite, die Geschichte, aber es ging ihm auch um das Material selbst, das die anderen Regisseure wenig nutzten oder völlig außer Acht ließen. Er arbeitete direkt am Rohmaterial, er zerkratzte, durchlöcherte es, er raute es auf und brannte es an. Das Negativ war nicht nur eine Oberfläche, die ein Bild aufnehmen konnte, sondern eine, die man beschreiben und die die Kunst verändern konnte. Wenn sie ihn vor seinem Zelluloidstreifen gesehen hätten! Es war, als würde er eine Frau umarmen.«
Sie lächelte in sich hinein, während sie daran zurückdachte.
» Jacques war von älteren Techniken des europäischen grafischen Films beeinflusst, von den Überlagerungseffekten der surrealistischen Cineasten wie Luis Buñuel oder Germaine Dulac. Die Szene mit dem Auge ist übrigens direkt inspiriert von Buñuels Film Ein andalusischer Hund … eine Art Hommage.«
Lucie versuchte, möglichst viel mitzuschreiben, doch die alte Dame sprach zu schnell.
» Er verkehrte auch in Magierkreisen. Der Zauberkünstler Houdini, der damals allerdings schon verstorben war, faszinierte ihn besonders. Ich erinnere mich, dass Jacques beim Filmen die Bilderzahl erhöhte, um die Bewegungen der Zauberkünstler im Detail sehen und ihr Geheimnis durchschauen zu können. Er verbrachte Stunden und Tage damit, in seinem kleinen Labor in Bagnolet seine Muster zu bearbeiten. Auch die Pornografie interessierte ihn unglaublich. Er analysierte die Einstellungen, die Mechanismen der durch das Bild ausgelösten Lust. Er beherrschte alle Finessen des Schnitts. Er hatte auch selbst Kaschs gebaut, die man vor das Objektiv setzen konnte. Er war Schöpfer unglaublich vieler Minifilme, oft kaum länger als einige Minuten, in denen er unsere Aufmerksamkeit einfing, unseren Bezug zu Gewalt und Kunst. Ich war jedes Mal tief beeindruckt, schockiert und verstört. Das Publikum und die Fachwelt interessierten sich absolut nicht für seine Arbeit und sein Talent. Jacques litt sehr unter diesem Mangel an Anerkennung.«
Lucie unterbrach sie:
» Hat er Ihnen seine Techniken erklärt? Hat er von Subliminalbildern gesprochen?«
» Nein, er behielt sein Wissen für sich. Das war ein wohlgehütetes Geheimnis. Noch heute beweisen Filme von ihm, die wieder aufgetaucht sind, dass er Techniken beherrschte, die nicht einmal die zeitgenössischen Experimentalfilmer verstehen.«
» Und dann?«
» Da er den Durchbruch nicht schaffte, ging es Jacques immer schlechter. Die Produzenten wollten nicht mit ihm arbeiten. Ich habe beobachtet, wie er Unmengen von Wodka trank und harte Drogen schluckte, um durchzuhalten und Tag und Nacht arbeiten zu können. Von mir wollte er nichts mehr wissen, und wir haben uns getrennt. Das war ein schwerer Schlag für mich.«
Ihr Blick folgte in der Ferne einem Luxusliner, der den Hafen verließ. Dann konzentrierte sie sich wieder auf das Gespräch.
» Als wir noch zusammen waren, hat er mich in das Milieu eingeführt und fragwürdigen Leuten vorgestellt. Ich entsprach dem damals gängigen Schönheitsideal, hatte einen kleinen festen Busen so wie die Garbo, das kam gut an. Also habe ich, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, angefangen, in erotischen Filmen zu spielen.«
Sie seufzte. Sharko, der offenbar entschlossen war, so viel Champagner zu trinken wie möglich, schenkte sich nach. Er schätzte, dass das Glas um die dreißig Euro kostete, und das machte ihn noch besser.
» Ein Jahr später, 1950, fuhr Jacques nach Kolumbien, um dort Les Yeux de la forêt, Die Augen des Dschungels, zu drehen. Das war sein einziger Langfilm. Es war ihm gelungen, ein lächerliches Budget zusammenzukratzen, das kaum ausreichte, um die Ausrüstung zu mieten und ein kleines kolumbianisches Team zu engagieren. Dieser Film hat ihn endgültig ruiniert. Seinetwegen hatte Jacques große Schwierigkeiten mit den französischen Behörden und wäre fast im Gefängnis gelandet.«
» Den Titel habe ich nie gehört… Les Yeux de la forêt, sagen Sie?«
» Er ist ja auch nicht ins Kino gekommen, sondern der Zensur zum Opfer gefallen. Heute ist er verloren, alle Kopien sind zerstört worden oder verschwunden. Jacques hat ihn mir nach dem Schnitt gezeigt…« Sie verzog das Gesicht. » Es war
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