Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
geringste. Er weiß weder, woher er kommt, noch, wer der Regisseur ist. Das bleibt vorerst ein Geheimnis.«
Sharko erhob sich und griff nach seiner Mappe und seiner Tasche.
» Dann können wir nur hoffen, dass Sagnol ein gutes Gedächtnis hat.«
Kapitel 34
An diesem Spätnachmittag blies der Mistral heftig und sprühte die Gischt des Mittelmeers auf die gebräunten Gesichter. Sharko und Lucie liefen über die Canebière, er die Sonnenbrille mit dem geklebten Bügel auf der Nase und seine Tasche in der Hand, sie mit einem kleinen Rucksack. Um diese Tages- und Jahreszeit war es wegen der vielen Touristen unmöglich, die Umgebung des alten Hafens mit dem Wagen zu erreichen. Auf dem Wasser kreuzten Fischkutter und Yachten, die Terrassen der Cafés waren überfüllt, die Stimmung war ausgelassen.
Aber nicht für alle. Die ganze Fahrt über hatten die beiden Ermittler über nichts anderes als ihren Fall gesprochen. Der Todesfilm, das paranoide Verhalten von Szpilman, der mysteriöse kanadische Mister X… Wahrhaft ein gordischer Knoten, bei dem die Spuren und Schlussfolgerungen nicht zusammenzupassen schienen.
So ruhte ihre ganze Hoffnung, eine Lösung für das Rätsel zu finden, nun auf Judith Sagnol.
Sie war im Sofitel abgestiegen, einem Vier-Sterne-Hotel, das einen wunderbaren Blick auf die Einfahrt zum alten Hafen und die Basilika Notre-Dame de la Garde, im Volksmund » La Bonne Mère« genannt, bot. Vor dem Eingang Palmen, Kofferträger und teure Autos. An der Rezeption teilte man den beiden Journalisten mit, Judith Sagnol sei ausgegangen, um einige Besorgungen zu machen, und würde sie bitten, in der Bar auf sie zu warten. Lucie warf besorgt einen Blick auf die Uhr.
» In knapp zwei Stunden geht unser Zug zurück. Mein letzter TGV nach Lille um dreiundzwanzig Uhr, wenn wir den um achtzehn Uhr achtundzwanzig in Marseille Saint-Charles verpassen, komme ich heute nicht mehr nach Hause.«
Sharko steuerte auf die Bar zu.
» Solche Leute lassen gerne auf sich warten. Kommen Sie, wir wollen wenigstens den Blick genießen.«
Gegen 17:30 Uhr informierte eine Hotelangestellte sie, dass Mme Sagnol sie in ihrem Zimmer erwarte. Lucie kochte vor Wut. Sie trat ein wenig beiseite, um zu telefonieren. Das Gespräch mit ihrer Mutter war weniger problematisch, als sie erwartet hatte: Juliette hatte sehr gut gegessen, und ihre Verdauung funktionierte wieder fast normal. Wenn alles so bliebe, würde sie am übernächsten Tag entlassen. Endlich ein Lichtblick.
» Kommst du bis morgen klar?«, fragte Marie Henebelle ihre Tochter.
Das war typisch ihre Mutter. Lucie warf einen Blick auf Sharko, der sie an ihrem Tisch erwartete.
» Ja, sicher…«
» Wo schläfst du?«
» Ich finde schon was. Gibst du mir Juliette?«
Sie sprach kurz mit ihrer Tochter und kehrte dann lächelnd zu Sharko zurück, der gerade sein Portemonnaie zückte.
» Lassen Sie nur, das mache ich.«
» Wie Sie wollen… Sonst hätte ich es auf den Cent genau passend gehabt.«
Sie zahlte das Bier und die Limonade, nicht ohne das Gesicht zu verziehen: sechsundzwanzig Euro fünfzig, die hatten wirklich keine Skrupel.
Sie gingen zum Aufzug.
» Wie geht es der Kleinen?«
» Sie kommt bald raus.«
Der Kommissar nickte und brachte fast ein Lächeln zustande.
» Das ist gut.«
» Haben Sie Kinder?«
» Wirklich hübsch, der Aufzug…«
Während sie nach oben fuhren, wechselten sie weder einen Blick noch ein Wort. Sharko betrachtete die nacheinander aufleuchtenden Etagenknöpfe und schien erleichtert, als sich die Tür endlich öffnete. Noch immer schweigend, liefen sie über den mit dickem Teppichboden ausgelegten Gang.
Lucie bekam einen Schock, als Judith Sagnol vor ihr in der Tür stand. Mit Mitte siebzig hatte das Pin-up-Girl der Fünfzigerjahre noch immer denselben dunklen, durchdringenden Blick wie in dem Film. Ihre Augen waren tiefschwarz, das lockige graue Haar fiel ihr auf die bloßen gebräunten Schultern. Wenngleich die Schönheitschirurgen ihr Unwesen getrieben hatten, sah man doch noch, dass sie früher eine sehr hübsche Frau gewesen war.
In ihrem einfachen leichten blauen Seidenkleid, mit nackten Füßen und kirschrot lackierten Nägeln, bat sie die beiden auf die Terrasse und bestellte eine Flasche Veuve Clicquot. Das Bett war nicht gemacht, und Lucie bemerkte vor einer Kommode Herrenunterwäsche. Zweifellos ein Gigolo, dessen Dienste sie bezahlte. Sobald sie saß, schlug Judith Sagnol die Beine in der Art eines erschöpften Stars
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