Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
werden nicht gespeichert.«
Sharko sah sie aus den Augenwinkeln an.
Das Licht fiel in besonderer Weise auf ihr Gesicht, so als würde es beim Kontakt mit ihrer Haut schwächer werden. Der Kommissar sah ihre Entschlossenheit und Konzentration, das gefährliche Glitzern ihrer blauen Augen. Diesen Blick kannte er nur allzu gut.
Leclerc notierte Kashmarecks Informationen und fuhr fort:
» Und was weiß man über Wlad Szpilman, außer dass er ein Sammler mit kleptomanischen Neigungen war?«
» Die belgischen Kollegen haben ein paar aufschlussreiche Sachen entdeckt. Nach Aussage seiner Freunde schien Wlad Szpilman in den letzten zwei Jahren auf der Suche nach etwas Bestimmtem gewesen zu sein. Er hatte angefangen, alle möglichen Filme zu klauen oder legal zu erwerben, die etwas mit dem amerikanischen, englischen und sogar französischen Geheimdienst zu tun hatten… CIA , MI 5, Reportagen über den Kalten Krieg, Rüstungswettlauf und so weiter.«
» In den beiden letzten Jahren…«, wiederholte Sharko. » Und der kanadische Mister X hat am Telefon gesagt, dass auch er seit zwei Jahren Nachforschungen betreibt– was für ein Zufall! Alles scheint in dem Moment angefangen zu haben, als Szpilman den Film in die Finger bekommen hat.«
» Das war auch die Zeit, zu der er ihn im Zentrum für Neuromarketing hat analysieren lassen«, ergänzte Lucie.
Kashmareck nickte zustimmend. Sharko fixierte eine Weile den leeren Stuhl ihm gegenüber und wandte sich dann wieder dem Liller Hauptkommissar zu, der fortfuhr:
» Aber das ist noch nicht alles. Szpilman verbrachte einen großen Teil seiner Zeit in der Bibliothek von Lüttich. Einmal hat er ein Dokument auf dem Scanner vergessen, und die Bibliothekarin hat nicht daran gedacht, es ihm zurückzugeben. Nach ihrer Aussage hielt er sich ausschließlich in der Abteilung ›Geschichte des 20. Jahrhunderts‹ auf.«
Er zog ein Blatt aus seiner ledernen Aktenmappe und reichte es herum. Es handelte sich um eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die aus einem Buch gescannt schien. Sie zeigte mitten auf einem Feld deutsche Soldaten, die ihre Gewehre auf Frauen und die Kinder in ihren Armen richteten. In der Bildunterschrift hieß es:
Deutsche Soldaten schießen 1942 während der Shoah in Ivangorod, Ukraine, vor einem Fotografen auf jüdische Mütter und ihre Kinder.
Lucie betrachtete die Augen des Mannes, der im Vordergrund seine Waffe hob. Der eiskalte Ausdruck und der verkniffene Mund waren grauenvoll. Wie konnte man vor einer Kamera töten? Wie konnte man sich darüber hinwegsetzen, dass der Film den Blick der Opfer im Angesicht des Todes festhielt?
Lucie reichte das Foto weiter an Péresse. Kashmareck legte ein Buch auf den Tisch.
» Das Bild stammt aus diesem Buch. Es geht um die Ausrottungskampagne durch Massenerschießungen. Ich habe das Foto auf Seite siebenundvierzig gefunden. Auf der folgenden Seite liegen die getöteten Frauen und Kinder auf dem Boden.«
Sharko blätterte in dem Werk und betrachtete aufmerksam die Fotos.
» Der Genozid an den Juden«, sagte er.
Er dachte an das Buch, das er im Flugzeug gelesen hatte. Kriminelle kollektive Hysterie . Das konnte kein Zufall sein. Szpilman folgte einer Spur, die mit den ermordeten ägyptischen Mädchen im Zusammenhang stand.
Kashmareck spielte nervös mit einer Zigarette. Er hätte sie gerne jetzt und hier geraucht. Er ergriff erneut das Wort:
» Man muss sagen, dass Wlad Szpilman erstaunlich oft in der Bibliothek war. Merkwürdigerweise lieh er nie Bücher aus und hinterließ also somit auch keine Spuren. Wie bei seinen Internetverbindungen. Ein wahres Phantom.«
Lucie ergänzte:
» Ich habe seine Bücher gesehen, bevor die Mörder sie gestohlen haben. Es ging immer um große Konflikte der Geschichte. Kriege, Genozide… häufig auch um Spionage. Ich…«
Lucie versuchte, sich zu erinnern, sie hatte sich damals nicht auf die vollgestopften Regale konzentriert.
» Ich erinnere mich an Namen wie… Ich weiß nicht mehr genau, etwas wie Artischocken oder so…«
» Operation Artichoke«, fuhr Leclerc fort, » war ein Forschungsprogramm der CIA über Verhörmethoden. In den Fünfzigerjahren gab es etliche, nicht immer ruhmreiche Versuche mit Hypnose und dem Einsatz verschiedener Drogen, unter anderem LSD , um eine Amnesie oder andere Bewusstseinsstörungen herbeizuführen.«
» In den Fünfzigerjahren«, wiederholte Lucie. » Und der Film ist von 1955– ein Zufall? Einige Bilder des Films sind mir wirklich in Erinnerung
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