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Öl!

Titel: Öl! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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wir kriechen ins Zelt, sonst beten die uns noch in Grund und Boden.»
    Bunny gehorchte, und sie lagen still da. «Mann, war das ein schreckliches Erdbeben!», flüsterte der Junge. «Glaubst du, dass da Städte eingestürzt sind?»
    «Wahrscheinlich war’s nur lokal», antwortete Dad. «Das gibt’s oft hier oben in den Bergen.»
    «Dann müssten die Watkins’ doch daran gewöhnt sein.»
    «Ich schätz mal, die machen gern so ein Theater. Sie haben ja sonst nicht viel Aufregendes in ihrem Leben.» Mehr hatte Dad dazu nicht zu sagen. Er selbst erlebte jede Menge Aufregendes, er war an Erdbeben nicht sonderlich interessiert und noch weniger an den Rasereien religiöser Fanatiker. Bald war er wieder fest eingeschlafen.
    Doch Bunny lag da und lauschte. Die Familie Watkins hatte «losgelassen» und zelebrierte einen regelrechten Springgottesdienst da draußen unter den kalten weißen Sternen. Sie schrien, beteten, lachten und sangen, sie riefen «Gloria! Gloria!» und «Amen!» und «Selah!» und andere Wörter, die Bunny nicht verstand, es war vielleicht Griechisch oder Hebräisch oder die Sprache der Erzengel. Die Stimme des alten Abel Watkins übertönte alle anderen, das schrille Geschrei der Kinder bildete den Chor, und das Blöken der Ziegen klang wie ein Orchester mit vielen Kontrabässen. Bunny liefen kalte Schauer den Rücken hinauf und hinunter; schließlich gab es die naturwissenschaftliche Theorie, die von Erdschichten und Verwerfungen wusste, erst seit ein- oder zweihundert Jahren, während der natürliche Instinkt mit seinen Zauberformeln Tausende, vielleicht Hunderttausende von Jahren alt war. Priester sind in Raserei verfallen und haben Flüche ausgestoßen, und weil die Priester dran glaubten und ihre Opfer auch, haben die Beschwörungen gewirkt, und die Menschen glaubten nur noch mehr daran. Das hier war ein Erdbebenzauber, die Menschen lagen auf den Knien, reckten die Hände in die Luft und wiegten sich vor und zurück.
    «Empor zum Herrn, empor zum Herrn,
    empor zum Herrn geleitet uns das Lamm!»
    Endlich döste Bunny ein, und als er die Augen wieder aufschlug, stand die Morgendämmerung rosa hinter den Bergen, und Dad schlüpfte gerade in seine khakifarbene Jagdhose. Bunny rieb sich nicht lange die Augen, er sprang aus dem Bett und zog sich schnell an – bei dieser Kälte froren einem ja die Knochen ein!
    Er kletterte den Abhang hinauf, zog totes Holz nach unten, fachte ein Feuer an und setzte den Topf drauf.
    Da brachte Eli das saubere Geschirr und fragte, ob sie die Milch von gestern Abend wollten, die sei kalt, oder lieber die warme von heute Morgen. «Sagt mal, habt ihr das Erdbeben gespürt?», fragte Eli aufgeregt. «Das war ja fürchterlich! Gibt’s bei euch daheim auch Erdbeben?»
    Eli hatte flachsblondes Haar, das schon länger nicht mehr geschnitten und seit dem Erdbeben nicht mehr gekämmt worden war. Er hatte blassblaue, leicht hervorquellende Augen mit erwartungsvollem Blick. An seinem langen Hals zeichnete sich der Adamsapfel deutlich ab. Seine Beine waren für die abgetragene Hose, die sie eigentlich bedecken sollte, viel zu schnell gewachsen; am unteren Ende kamen Schuhe ohne Strümpfe zum Vorschein. Er stand da, starrte auf jede Einzelheit der Ausrüstung und Kleidung dieser Fremden aus der Stadt und versuchte gleichzeitig, ihre Seelen zu erforschen. «Was sagt denn euer Wahres Wort über Erdbeben?»
    Dad briet gerade Speck und Eier und sagte, sie hätten gern ein wenig Milch von heute früh – ein Versuch, Eli loszuwerden. Aber es dauerte nicht lange und er kam zurück, stand da, verfolgte mit den Augen jeden Bissen, der in ihren Mund wanderte, und sagte, die Familie hätte einen «Gebetssturm» gegen dieses Erdbeben gesandt; ein Erdbeben bedeute, dass der Heilige Geist die Unzucht, Trunksucht und Arglist auf Erden satt habe – ob sie vielleicht etwas Derartiges getan hätten? Von Unzucht hatte Bunny nur eine vage Vorstellung, aber er wusste, dass Dad kurz vor dem Erdbeben eine faustdicke Lüge erzählt hatte, und er schmunzelte bei dem Gedanken, was für ein Menetekel die Watkins’ daraus machen würden, wenn sie davon wüssten!
    Der alte Mann kam, um sich zu vergewissern, ob bei ihnen alles in Ordnung sei. Mr Watkins war eine kräftigere, größere Ausgabe seines Sohnes mit den gleichen hervorquellenden, blassblauen Augen und dem gleichen enormen Adamsapfel, das Gesicht wettergegerbt und sorgenzerfurcht, und man merkte, dass er bei aller Verrücktheit ein freundlicher,

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