Öl!
orientierte er sich an Dickens, «der mich begeisterte», und an Emile Zola, der ihm «sehr viel beibrachte». Den wohl größten Einfluss auf Sinclair hatte jedoch der englische Dichter Percy Bysshe Shelley, der ihn zu Selbstprüfung, radikalerem Denken und ambitionierterem Schreiben inspirierte. «Wenn überall die Menschen vor die Hunde gehen und verhungern, und niemand Herz noch Hirn hat, deswegen einen Aufruhr anzuzetteln, dann müssen dies die Schriftsteller tun.»
Der Dschungel wurde ein unerwarteter Bestseller. Mit dem Honorar begründete Sinclair eine Kommune, die «Helicon Home Colony», die nach vier Monaten unter ungeklärten Umständen niederbrannte. Sein nächster großer literarischer Wurf behandelte just jenen Streik, den er auf dem Broadway zu unterstützen versucht hatte. King Coal hat jenseits der Fokussierung auf eine Industrie einige strukturelle Ähnlichkeiten mit Oil! : Ein reicher junger Mann wird mit den primitiven und ausbeuterischen Zuständen in den Minen konfrontiert, wandelt sich vom Sympathisanten zum Aktivisten und verliebt sich in die kämpferische Tochter eines Kumpels, was ihn schließlich seiner Herkunft entfremdet. Es ist nicht zu übersehen, dass bei Sinclair literarisches Werk und politisches Wirken Hand in Hand marschierten.
VON KOHLE ZU ÖL
Sinclairs Interessen waren in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg fast enzyklopädisch. The Brass Check ( 1920 , dt. Der Sündenlohn ) gewährt einen kritischen Einblick in den amerikanischen Journalismus; The Goose-step ( 1923 , Der Parademarsch ) beschäftigt sich mit dem Universitätssystem; in The Goslings (1924) geht er mit den weiterführenden Schulen ins Gericht, und in The Golden Chain ( 19 25 , Die goldene Kette oder Die Sage von der Freiheit der Kunst ) legt er seine Auffassung von Kunst und Literatur dar. Obwohl seine pointierten Meinungen oft Widerspruch erregten, etablierte er sich mit diesen Streitschriften als einer der wichtigsten Kommentatoren der US -amerikanischen Gesellschaft. Doch das Schreiben von Sachbüchern befriedigte ihn nicht im selben Maße wie das Verfassen von Romanen. Er hatte schon seit Jahren nach einem Stoff, einer Anregung gesucht, als der Teapot-Dome-Skandal losbrach. Bald nach Präsident Hardings Amtsübernahme im Jahre 1922 hatte der Innenminister Alfred B. Fall durch eine präsidiale Verfügung ölreiches Land von der Marine auf das Innenministerium überschreiben lassen, um es dann ohne offizielle Ausschreibung Harry F. Sinclair von Sinclair Oil (mit dem Autor weder verschwistert noch verschwägert) zu überlassen.
Anfang 1925 begann Sinclair mit der Niederschrift und schloss sie im Sommer 1926 ab. Bis auf einige Passagen im letzten Drittel des Romans, in denen politische Korruption eine gewisse, wenn auch keineswegs zentrale Rolle spielt, interessiert sich Sinclair jedoch erstaunlich wenig für die Details des damals berüchtigten Skandals. Stattdessen lässt er in Öl! , wie in keinem anderen Roman, seiner Fantasie großen Freilauf, vielleicht weil die zwei eigenwilligen und widersprüchlichen Hauptfiguren, Arnold «Dad» Ross, der es aus eigenen Kräften zum Millionär gebracht hat, und sein Sohn Bunny über alle schematischen Zwänge hinauswuchsen. Auch begnügt er sich nicht mit der Beschreibung des Ölgeschäfts in Südkalifornien, sondern erfasst die Gesellschaft in der Totalen: das Universitätsleben, der Einfluss Hollywoods, das Aufkommen evangelikaler Sekten mit massenmedialer Ausrichtung, der Arbeitskampf und die Flügelkämpfe unter Linken, der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution.
Der Schauplatz mag aufgrund der biografischen Vertrautheit gewählt worden sein, hätte aber nicht geeigneter für ein Panorama am Puls der Zeit sein können. Südkalifornien, vor allem Los Angeles, war in den 1920er-Jahren das Labor der Zukunft. Eine Reihe riesiger Ölfunde – am Huntington Beach, am Signal Hill nahe Long Beach, am Telegraph Hill und in Santa Fe Springs in Orange County – ließen diese zuvor eher verschlafene Region für eine Weile zum Mittelpunkt der weltweiten Ölförderung werden. Die lokale Ölindustrie (verantwortlich für ein Viertel der Weltfördermenge) wurde rasch der führende Wirtschaftssektor des Bundesstaats. Der leicht und billig zugängliche Brennstoff trieb die Entwicklung der Autokultur voran, die in der Mobilität die Erfüllung aller modernen Versprechen sah. Das Automobil wurde zum Idol der Neuzeit. Im Jahr 1900 hatte es in den USA nur 8000 registrierte
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