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Öland

Öland

Titel: Öland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
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verschwammen.
     Daraufhin holte er seine Lesebrille heraus, setzte sie auf und
     betrachtete erneut das Bild. Als auch das nichts half, nahm er
     die Brille ab und benutzte sie als Lupe. Die starren Gesichter
     der Arbeiter kamen ihm entgegen und lösten sich gleichzeitig in schwarz-weiße Punkte auf.
    Gerlof bewegte seine Brille über das Foto und musterte
     prüfend die Hand auf Martins Schulter. Dort lag sie und ruhte
     freundschaftlich am Hals des Reeders, doch nun erkannte
     Gerlof, dass jene Hand, die eigentlich August Kants Rechte
     hätte sein müssen, in Wirklichkeit eine linke Hand war. Und
     direkt hinter der Hand …
    Gerlof betrachtete die Gesichter auf dem Foto und erkannte plötzlich das Detail, das auch Ernst aufgefallen sein
     musste. »Der Daumen ist das Wichtigste. Nicht die Hand«,
     hatte er ihm ausrichten lassen.
    »Der Teufel soll mich holen!«, fluchte er.
    Gerlofs Mutter hatte ihm vor über siebzig Jahren verboten,
     so zu fluchen. Und er hatte sich bis zu diesem Tag daran gehalten.
    Um ganz sicherzugehen, holte er sein Notizbuch heraus,
     blätterte bis zu der Liste mit den Namen der Männer auf dem
     Foto und ging sie durch.
    »Verdammt und …«, stieß er aus.
    Sekundenlang war er ganz versunken in seiner Entdeckung, dann blickte er kurz auf und erinnerte sich wieder,dass er in einem Überlandbus nach Marnäs saß. Aber sie waren noch lange nicht da, befanden sich erst südlich von Stenvik, und als er aus dem Fenster sah, fuhr der Bus gerade an
     dem Schild CAMPINGPLATZ 2 KM vorbei.
    Stenvik, der Bus würde gleich in Stenvik sein . Er musste unbedingt mit John über diese neuen Erkenntnisse sprechen.
    Gerlof streckte sich und drückte auf den roten Halteknopf.
    Als der Bus langsamer wurde und die Bushaltestelle
     fünfzig Meter vor der Abzweigung nach Stenvik ansteuerte,
     steckte Gerlof das Jubiläumsbuch, sein Notizbuch und die
     Brille in die Aktentasche und stand auf.
    Die mittlere Tür des Busses öffnete sich mit einem Zischen,
     und Gerlof stieg mühsam die Stufen hinunter und stand im
     kalten Wind. Das Rheuma meldete sich in seinen Handgelenken und Knien, aber die Schmerzen waren noch erträglich.
    Die Tür schloss sich, der Bus fuhr weiter. Er stand allein im
     Nieselregen. Früher hatte an der Haltestelle ein kleines Holzhäuschen gestanden, aber es war schon lange entfernt worden. Alles, was in gutem Zustand und umsonst war, wurde
     schnell wieder abgebaut.
    Nachdem das dumpfe Motorengeräusch des Busses verklungen war, sah sich Gerlof in der öden, menschenleeren
     Landschaft um und knöpfte den obersten Knopf seines Mantels zu. Er achtete auf die Straße, als er sie überquerte, aber
     die Landstraße lag vollkommen verlassen, kein Auto war in
     der Nähe. Zügig ging er die fünfzig Meter bis zur Abzweigung, doch dann musste er gegen den Wind laufen und
     wurde langsamer.
    Er hatte fast zweihundert Meter zurückgelegt, als ihm
     plötzlich einfiel, dass er John Hagman gar nicht in Stenvik
     antreffen würde.
    Er war doch in Borgholm geblieben.
    Gerlof blieb stehen und blinzelte in den Wind.
    Wie um alles in der Welt hatte er das vergessen können? Erhattesich doch erst vor einer halben Stunde von John verabschiedet. Aber seine Entdeckung auf dem Foto von Ramneby
     hatte ihn so aufgewühlt, dass er nicht mehr daran gedacht
     hatte.
    Aber in Stenvik würde doch bestimmt irgendwer zu Hause
     sein? Julia war vielleicht noch nicht zurück, aber Astrid? Sie
     war eigentlich immer zu Hause. Ihm blieb nur weiterzugehen, denn Marnäs war noch viel weiter entfernt.
    Jetzt wurden seine Schritte schwerer, die Kälte kroch unter
     seinen Mantel. Der Wind zerrte an ihm, er senkte den Kopf
     beim Gehen.
    Ein Schritt nach dem anderen über den rissigen Asphalt.
     Er zählte leise vor sich hin; eins, zwei, drei – beim fünfundzwanzigsten Schritt blickte er auf, aber der Baum am Horizont, der anzeigte, dass dort die Alvar endete und das Dorf
     begann, schien kein bisschen näher gekommen zu sein.
    Zum ersten Mal spürte Gerlof Zweifel in sich aufsteigen
     wie bei einem Schwimmer, der furchtlos beschließt, einen
     eiskalten See zu durchqueren, bis ihn auf halber Strecke die
     Kräfte verlassen. Zur Landstraße zurückzulaufen war unsinnig, aber weiterzugehen erschien ihm ebenso aussichtslos.
    Plötzlich machte er mit seinem linken Fuß einen Fehltritt,
     er stolperte und wäre beinahe in den Graben gefallen. Mithilfe seines Stocks konnte er sich in letzter Sekunde auffangen. Im

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