Öland
dir … Das war mit Jens’ sprunghaftem Vater Michael, und wir
hatten uns schon getrennt, bevor … na ja, bevor das alles passiert ist.«
Lennart nickte.
»Man muss ziemlich entschlossen sein, um in einer festen
Beziehung zu leben«, sagte er.
Jetzt nickte Julia.
»Was hast du für Pläne? Wirst du auf Öland bleiben?«,
fragte Lennart.
»Ich weiß es noch nicht … Vielleicht«, erwiderte Julia. »Es
gibt nicht viel, was mich in Göteborg hält. Und Gerlof geht es
auch nicht gerade blendend. Er will zwar niemanden, der ihn
überwacht, aber eigentlich bräuchte er so jemanden.«
»In Nordöland sucht man händeringend nach Krankenschwestern, das weiß ich zufällig«, warf Lennart ein und sah
ihr in die Augen. »Und ich fände es schön, wenn du …«
Er wurde von einem monotonen Piepen unterbrochen,
und Julia zuckte zusammen. Lennart sah auf seinen Pieper
am Gürtel.
»Die rufen mich schon wieder«, murmelte er.
»Was Wichtiges?«, fragte Julia.
»Nein, es scheint nur um eine kurze Absprache auf dem
Präsidium zu gehen.« Er stand auf. »Ich gehe mal zahlen.«
»Wir können doch teilen«, schlug Julia vor.
»Nein, nein«, winkte Lennart ab. »Ich habe dich doch hierhergelockt.«
»Danke«, sagte Julia.
»Wollen wir sagen, dass wir uns …«, Lennart sah auf seine
Uhr, »… so gegen vier auf dem Präsidium treffen? Das müsste
gehen. Dann können wir der Großstadt gemeinsam den Rücken kehren und nach Hause fahren.«
»Sehr schön.«
»Hast du vielleicht Lust, dir mein Haus anzusehen? Es ist
nicht groß, liegt aber direkt am Wasser, nördlich von Marnäs.
Jeden Morgen steigt die Sonne aus dem Meer, wenn man es
poetisch beschreiben möchte.«
»Sehr gern.«
Sie verabschiedeten sich vor dem Restaurant. Lennart ging mitschnellen Schritten zum Präsidium, und Julia humpelte
auf der Krücke vorsichtig in die Kungsgatan, um ein bisschen
Schaufenster zu gucken.
Sie kam an einem Tabakladen vorbei und las automatisch
die Schlagzeilen – SCHWERER UNFALL AUF DER E 22 RICHTUNG KALMAR – KEINER DER TOTEN WURDE BISHER IDENTIFIZIERT – CAROLA WIEDER IM GLÜCK – FERNSEHEN
AM WOCHENENDE – HABEN SIE IM LOTTO GEWONNEN? –,
ohne dass eine der Meldungen sie berührt hätte.
Ihr ging es trotz der vielen Verletzungen gut. Sie war sogar
richtig froh. Darüber, dass Gerlof und sie sich nähergekommen waren als je zuvor, darüber, dass sie sich von ihrer
Schwester Lena am Wochenende fast wie von einer Freundin
verabschiedet hatte, und besonders darüber, dass Lennart
Henriksson offensichtlich gerne in ihrer Gesellschaft war.
Julia hatte sich sogar darüber gefreut, dass die Polizei Anders Hagman freigelassen hatte. Es wäre fürchterlich gewesen, wenn jemand aus Stenvik etwas mit dem Verschwinden
ihres Sohns zu tun gehabt hätte. Da war es ihr lieber zu glauben, dass Jens im Nebel zum Wasser gegangen war, über die
Steine am Strand gehüpft und am Ende gestolpert war.
Jetzt konnte sie sich das vorstellen.
JÖNKÖPING, APRIL 1970
E s ist nicht besonders groß, aber es hat einen Blick auf den
See Vättern«, erklärt der Hausbesitzer und zeigt aufs Fenster.
»Die Küchenmöbel und das Bett sind in der Miete enthalten.«
Der Mann schnauft, er bekommt nur schwer Luft. Der Aufzug im Haus ist kaputt, und ihm steht der Schweiß auf der
Stirn von den vier Stockwerken, die er zu Fuß gehen musste.
Er trägt einen Anzug und ist sehr korpulent.
»Ausgezeichnet«, sagt der zukünftige Mieter.
»Es gibt auch gute Parkmöglichkeiten.«
»Vielen Dank, aber ich habe kein Auto.«
Er benötigt keine fünf Minuten, um die Wohnung zu inspizieren, im Grunde noch weniger. Ein Zimmer, eine Küche, im
obersten Stock des Hauses in der Gröna Gatan, im Süden Jönköpings.
»Ich nehme sie. Für ein halbes Jahr. Vielleicht noch länger.«
»Sie sind Vertreter und haben kein Auto?«
»Ich nehme immer Zug oder Bus«, erklärt der Mieter. »Ich
muss oft umziehen … Ich warte darauf, dass mich die Direktion nach Hause ruft.«
Nils übt sich noch im Umgang mit seinem neuen Namen
und neuen Leben. Er wächst langsam hinein und sieht, wie
sein altes Leben zunehmend in den Hintergrund gedrängt
wird. Aber es wird nie ganz verschwinden, so als hätte er
noch ein zweites Leben unter seiner Haut. Das neue Leben istfreier, er hat einen Pass, mit dem er Grenzen passieren kann – trotzdem erscheint es ihm nie wirklich. Weder in Costa Rica
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