Öland
und würde es niemals schaffen, bis
zur Landstraße zu laufen, geschweige denn bis nach Marnäs.
Ljunger hatte das einkalkuliert.
Er hob einen Fuß und drehte sich schwankend um. Die
Strandlandschaft vor ihm war so grau und trostlos wie zuvor.
Das verlassene Grundstück lag nur fünfzig Meter entfernt.
Vielleicht würde er es schaffen, bis zu der Steinmauer zu
kommen und sich dort in den Windschatten zu setzen.
»Dann mach es auch«, befahl er sich selbst.
Einen Schritt nach dem anderen, mit dem Stock als Stütze,
falls seine Beine ihn im Stich ließen. Den linken Arm legte
er schützend über sein durchnässtes Hemd, es war ein kläglicher Versuch.
Der Belag unter seinen Füßen war hart und fest, er war vor
vielen Jahren aus Kalksteinsplittern aufgeschüttet worden.
Ljungers Wagen hatte keine Spuren darauf hinterlassen, und
sollte es doch Reifenabdrücke in den Schlammpfützen oben
an der Straße geben, würde der Regen sie bald fortspülen. Es
sah ganz danach aus, dass Gerlof ohne fremde Hilfe dorthin
gegangen war, als wäre Ljunger niemals da gewesen.
»Die Polizei geht nicht von einem Verbrechen aus.« Das
würde am Ende der kleinen Notiz in der Ölands-Posten stehen,
nachdem sie ihn gefunden hatten, erfroren.
Der Himmel wurde dunkler.
Einen Schritt nach dem anderen. Gerlof hob die Hand zur
Stirn und wischte die kalten Regentropfen weg.
Als er sich dem Strand unterhalb der kleinen Wiese näherte, hörte er das rhythmische Schlagen der Wellen gegen
die Uferkante. Über dem Wasser schwebte eine einsame
Sturmmöwe und ließ sich vom Wind schaukeln. Aber sie war
nicht das einzige Leben, das er entdeckte, mehrere Seemeilen
vom Land entfernt sah Gerlof die verschwommene, graue Silhouette eines großen Containerschiffs. Aber er hätte winken
und schreien können, so viel er wollte – ihn würde niemand
sehen oder hören können.
Gerlof konnte sich nicht erinnern, jemals an diesem Strand
gewesen zu sein. Er sehnte sich nach der Steilküste von Stenvik, die karg und
schön war. Die östliche Küste Ölands war
ihm zu flach und zu bewachsen.
Der Schotterweg endete, dahinter führte ein schmaler
Pfad durch das Gras, den schon sehr lange niemand mehr benutzt hatte, denn das Gras war hochgewachsen, und es fiel
ihm schwer, dort zu laufen. Jedenfalls hatte Gerlof große Probleme, weil er seine Beine kaum heben konnte. Ab und zu
traf ihn eine besonders heftige Windböe frontal und brachte
ihn ins Straucheln. Aber er lief konzentriert weiter und erreichte schließlich mit letzter Kraft den Apfelbaum.
Es war ein jämmerlicher, kleiner Apfelbaum, vom Wind gekrümmt. Die Äste trugen keine Blätter mehr und boten keinen Schutz, aber zumindest konnte sich Gerlof gegen den
Stamm lehnen und ein bisschen Kraft sammeln.
Er tastete in seiner Hosentasche nach einem kleinen, harten Gegenstand und holte ihn heraus.
Es war Gunnar Ljungers Handy.
Gerlof hatte es eingesteckt, als Ljunger ausgestiegen
war.
Aber das Handy nützte ihm nichts, weil er nicht damit umgehen konnte. Er versuchte ein paar Zahlen einzutippen – die
Nummer von John Hagman –, aber es passierte nichts, das
Telefon blieb stumm.
Zögernd steckte er es in die Hosentasche zurück.
Sollte er vielleicht sogar dankbar sein, dass Ljunger ihm
die Schuhe gelassen hatte? Ohne sie hätte er sich keinen Meter bewegen können.
Nein, er hasste Ljunger.
Land und Geld – um nichts anderes ging es. Martin Malm
hatte Geld für seine Schiffe erhalten und Gunnar Ljunger
viel Land um Långvik an sich gerissen, um damit Geld zu
verdienen.
Vera Kant war die ganzen Jahre hintergangen worden,
genau wie Nils.
Und Gerlof genau genommen auch.
Er wusste jetzt zwar, wie alles zusammenhing, aber das
genügteihm nicht mehr. Er wollte es weitererzählen, Julia,
John und vor allem der Polizei.
Sein Wunsch war es, vor den Beteiligten dieses Dramas zu
stehen, um ihnen die Zusammenhänge zu erklären und den
Schuldigen zu nennen, der Nils Kant und den kleinen Jens
auf dem Gewissen hatte. Große Aufregung, Applaus.
»Du willst dich wichtig machen«, hatte Julia ihm ins Gesicht gesagt. Sie hatte recht gehabt. Darum hatte er das alles
veranstaltet, um sich wichtig zu fühlen, nicht alt, vergessen
und halb tot.
Doch im Moment war er mehr als nur halb tot. Leben war
Licht und Wärme, aber mit dem Sonnenuntergang verschwand beides. Gerlofs Füße fühlten sich an wie Eisklumpen, die
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