Öland
Finger waren taub. Die Kälte lähmte ihn, aber sie war
auch eigenartig entspannend – beinahe angenehm.
Er schloss für einen Moment die Augen. Er dachte daran, wie
Gunnar in seinem dicken Auto davongefahren war und Gerlofs Aktentasche und Mantel hinausgeworfen hatte, als würde
er eine falsche Fährte legen wollen. Für denjenigen, der ihn
schließlich finden würde, wäre es ein klarer Fall: Ein seniler
alter Mann steigt an der Bushaltestelle aus und verläuft sich. In
seinem verwirrten Zustand zieht er den Mantel aus und lässt
alles fallen. Am Ende erfriert er im Dunkeln am Strand.
Es genügte Ljunger nicht, Gerlof umzubringen; er musste
ihn für die Nachwelt auch noch unbedingt als Idioten abstempeln.
Er atmete in flachen, keuchenden Zügen eiskalte Luft ein.
Wann hörte der Körper auf zu funktionieren? Wenn das Blut
kälter als dreißig Grad wurde?
Er hätte sich bewegen müssen, zum Strand hinabgehen
und vielleicht eine Nachricht in den Sand scharren müssen,
bevor er starb: GUNNAR LJUNGER – MÖRDER, in großen
Buchstaben, damit der Regen sie nicht fortwaschen konnte.
Aber er hatte keine Kraft mehr.
Er fühlte sich, als wäre er auf hoher See vom Schiff gestürzt – genauso kalt, nass und einsam. Gerlof hatte nie richtig schwimmen gelernt, und ins Wasser zu fallen war immer
seine größte Angst gewesen. Es hätte seinen sicheren Tod bedeutet.
Seine Gedanken wanderten zu Julia. Hatte sie Borgholm
mittlerweile verlassen? Vielleicht fuhr sie in diesem Augenblick auf der Landstraße vorbei, in Lennarts Dienstwagen. Er
hoffte, Ljunger würde sie in Ruhe lassen.
Ich stehe nie, wenn ich sitzen kann, und ich sitze nie, wenn ich liegen kann . Gerlof hatte das Zitat irgendwo gelesen, konnte sich
aber nicht erinnern, von wem es stammte.
Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Langsam
glitt er am Baumstamm hinunter und schabte sich den Rücken dabei auf.
Seine krummen Beine knickten ein, und er wusste, dass er
nicht wieder aufstehen würde. Nicht aus eigener Kraft.
Gerlof wusste, dass es ein großer Fehler war, sich hinzusetzen und die Augen zu schließen. Früher oder später würde er
sich hinlegen wollen und in den Schlaf gleiten.
Doch einzuschlafen wäre ein noch größerer Fehler.
Aber Gerlof wehrte sich nicht und sank ins Gras.
Er wollte sich nur kurz hinsetzen und ein wenig ausruhen,
nur ganz kurz.
STENVIK, SEPTEMBER 1972
G unnar hat eine Spitzhacke und zwei Spaten im Kofferraum
seines Volvos. Er holt die Werkzeuge heraus, reicht Martin einen Spaten und sieht Nils an.
»So, da wären wir, wo müssen wir hin?«
Nils steht im Nebel in der Alvar und sieht sich um. Ihm
steigt der vertraute Geruch von Gras, Kräutern und kargem
Boden in die Nase, er sieht Wacholderbüsche, Steinblöcke
und kaum markierte Pfade wie in seiner Jugend, findet sich
aber nicht mehr zurecht. Alle Anhaltspunkte sind im Nebel
verschwunden.
»Wir müssen zum Opferhügel«, sagt er leise.
»Das weiß ich, das haben Sie schon gestern Abend gesagt«,
unterbricht Gunnar ihn gereizt. »Aber wo genau ist der?«
»In der Nähe.«
Nils sieht sich um und entfernt sich vom Auto.
Martin, der die ganze Fahrt über kaum ein Wort gesagt hat,
holt ihn sofort ein. Er hat sich eine Zigarette angezündet und
zieht gierig daran. Auch Gunnar schließt sich ihnen an.
Nils lässt sich ein wenig zurückfallen, als würde er es nicht
sonderlich eilig haben. Er will die beiden Männer vor sich
wissen, sie unter Aufsicht haben.
Der Nebel ist so dicht, wie er es noch nie erlebt hat. In seiner
Erinnerung ist seine Alvar immer in Sonnenschein getaucht
gewesen. Jetzt hat er das Gefühl, als würde er am Meeresgrundin einer Luftblase spazieren gehen. Nur zehn Meter beträgt die Sicht, dahinter verschwindet die Landschaft, alles ist
grauweiß, alle Geräusche sind gedämpft. Er trägt nur einen
dünnen Pullover, eine dunkle Lederjacke und Jeans und friert.
»Los, nun kommen Sie schon, Nils!«
Gunnar ist stehen geblieben und hat sich umgedreht. Er ist
nur eine große, graue Gestalt, verschwommen wie eine Kohlezeichnung, sein Blick lässt sich nicht deuten.
»Wir wollen Sie doch nicht verlieren«, sagt er und geht mit
großen Schritten über das flache Gras, noch ehe Nils ihn eingeholt hat.
Die Dämmerung senkt sich langsam auf die Alvar herab. Es
wird Abend sein, bevor Nils endlich bei seiner Mutter ist. Ob
sie weiß, dass er an diesem Tag ankommen
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