Öland
keine … keine richtigen Antworten.«
»Ich will ihn sehen, Gerlof.«
Julia stand auf. Bis jetzt hatte sie nicht ein einziges Mal gelächelt, und nun sah sie ihn so durchdringend an, dass Gerlof
überlegte, ob das alles nicht ein großer Fehler gewesen war.
Er hätte sie vielleicht nicht anrufen sollen. Doch jetzt war
etwas in Gang gesetzt worden, und er konnte es nicht mehr
aufhalten.
Trotzdem versuchte er es möglichst lange hinauszuzögern.
»Hast du jemanden mitgebracht?«, fragte er.
»Wen denn?«
»Jens’ Vater, vielleicht«, sagte Gerlof. »Mats … hieß er nicht
so?«
»Michael«, korrigierte Julia. »Nein, er wohnt in Malmö. Wir
haben kaum noch Kontakt.«
»Ach so, ja«, murmelte Gerlof.
Wieder schwiegen sie. Julia machte zwei Schritte auf ihn
zu, aber Gerlof fiel noch etwas ein:
»Hast du getan, was ich dir am Telefon gesagt habe?«,
fragte er.
»Was denn?«
»Hast du dich zu erinnern versucht, wie dicht der Nebel an
dem Tag war?«
»Ja … vielleicht.« Julia nickte kurz. »Was ist denn mit dem
Nebel?«
»Ich glaube …«, Gerlof wählte seine Worte vorsichtig. »Ichglaube nicht, dass etwas passiert wäre … nicht so etwas
Schlimmes, wenn der Nebel nicht so dicht gewesen wäre.
Und wie oft haben wir hier so einen Nebel?«
»Nicht oft«, antwortete Julia.
»Genau. Drei-, viermal im Jahr, höchstens. Zumindest so
dichten Nebel wie an dem Tag. Viele wussten, dass damit
zu rechnen war, sie hatten es im Wetterbericht angekündigt.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe beim Meteorologischen Institut angerufen«, erklärte Gerlof. »Die heben die Berichte auf.«
»Ist der Nebel denn so wichtig?«, fragte Julia.
»Ja, ich glaube … dass jemand den Nebel ausgenutzt hat«,
sagte Gerlof. »Jemand, der nicht gesehen werden wollte.«
»Nicht an dem Tag gesehen werden wollte?«
»Überhaupt nicht gesehen werden wollte«, sagte Gerlof.
»Dann hat jemand den Nebel ausgenutzt, um Jens zu entführen?«, fragte Julia fassungslos.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Gerlof. »Außerdem frage
ich mich, ob das wirklich geplant war. Wer wusste denn, dass
er an dem Tag rausgehen würde? Niemand. Oder? Jens wusste
es doch noch nicht einmal selbst, er hat nur … die Chance
ergriffen, als sie sich ihm bot.« Gerlof sah Julia ihre Lippen
aufeinanderpressen, weil es um das Verschwinden ihres Sohnes ging, und fuhr schnell fort: »Aber der Nebel … der war vorhersehbar.«
Julia starrte auf den Schreibtisch.
»Wir müssen das in Betracht ziehen«, sagte Gerlof. »Wir
müssen uns überlegen, wer den größten Nutzen von dem
dichten Nebel hatte.«
»Darf ich sie jetzt sehen?«, fragte Julia.
Gerlof wusste, dass er es nicht länger hinauszögern konnte.
Er nickte und drehte sich zum Schreibtisch um.
»Sie liegt hier.«
Damit zog er die oberste Schublade auf, steckte eine Hand
hinein und hob vorsichtig einen Gegenstand heraus. Er schien
nur ein paar Gramm zu wiegen und war in weißes Seidenpapier gewickelt.
5
J ulia trat langsam zu Gerlof, der das kleine Paket auf seinem
Schreibtisch auspackte. Sie betrachtete seine Hände, deren
Alter von Falten, Leberflecken und dunklen Adern verraten
wurde. Seine Finger zerrten ungeschickt am Seidenpapier.
Julia fand das Rascheln ohrenbetäubend.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte sie.
»Nein, das geht schon.«
Es dauerte Minuten, ehe er das Päckchen geöffnet hatte –
zumindest kam es ihr so vor. Als er endlich das letzte Stück
Papier wegklappte, sah Julia, was es verdeckt hatte. Die Sandale lag in einer durchsichtigen Plastiktüte – sie konnte den
Blick nicht von ihr wenden.
Ich werde nicht weinen, dachte sie, es ist nur ein Schuh.
Dann spürte sie, wie sich ihre Augen mit einer intensiven
Wärme füllten, und sie musste die Tränen wegblinzeln, um
sehen zu können. Sie sah die schwarze Gummisohle und
die braunen Lederriemen, trocken und rissig nach so vielen
Jahren.
Eine Sandale, die verschlissene Sandale eines kleinen
Jungen.
»Ich weiß nicht, ob es der richtige Schuh ist«, sagte Gerlof.
»Wenn ich mich recht erinnere, sah er so aus, aber es kann
auch …«
»Das ist Jens’ Sandale«, erklärte Julia mit belegter Stimme.
»Wir können da nicht so sicher sein«, sagte Gerlof. »Es ist
nicht gut, sich so sicher zu sein, oder?«
Julia antwortete nicht. Sie wusste es. Sie wischte sich die
Tränen mit der Hand von der Wange und hob die Plastiktüte
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