Öland
Lass-Jan über die Reling. »Lauf doch nach Hause zu
deiner Mami!«, verhöhnt er ihn.
»Ich kümmere mich darum«, sagt der Vorarbeiter und
dreht sich zu seinem Arbeiter um.
Das ist ein großer Fehler. Lass-Jan sieht nicht, wie Nils'
Ruder durch die Luft gesaust kommt.
Das breite Blatt des Ruders trifft ihn am Hinterkopf. Lass-Jan stößt ein lang gezogenes »Huuuuh« aus, dann geben seine
Knie nach.
»Mir gehört das hier alles!«, schreit Nils.
Er balanciert mit dem Fuß auf der Reling des Kahns und
holt ein zweites Mal aus. Er trifft den Vorarbeiter am Rücken
und sieht ihn wie einen Sack Mehl über Bord gehen.
»Gott verdammt!«, schreit jemand an Bord des Frachters,
dann hört man das laute Platschen, als Lass-Jan zwischen
Lastkahn und Schiffsrumpf ins Wasser fällt.
Nils hört Rufe vom Ufer, aber das interessiert ihn jetzt
nicht. Er will Lass-Jan töten! Er hebt das Ruder, schlägt damit aufs Wasser und trifft Lass-Jans ausgestreckte Hände.
Die Finger brechen mit einem trockenen Knacken, sein Kopf
fliegt nach hinten und verschwindet unter der Wasseroberfläche.
Nils lässt das Ruder erneut aufs Wasser fallen. Lass-Jans
Körper versinkt in einem Strudel weißer Schaumbläschen.
Nils hebt das Ruder erneut, um ein letztes Mal zuzuschlagen.
Da saust etwas an Nils' Ohr vorbei und trifft seine linke
Hand; die Finger brechen, erst dann betäubt der Schmerz die
Hand. Nils taumelt und kann das Ruder nicht mehr festhalten, es fällt in den Kahn.
Er blinzelt und sieht hoch. Der Ablader, der ihn verspottet
hat, steht mit einem langen Bootshaken in der Hand an der
Reling. Sein Blick ist verängstigt, aber entschlossen.
Der Ablader zieht den Bootshaken wieder zu sich und hebt
ihn an, aber Nils hat schon das Ruder gegen den Schiffsrumpf
des Frachters gestoßen und seinen Kahn Richtung Land geschoben.
Er lässt den Mann an Bord des Frachters und Lass-Jan auf
dem Weg zum Meeresgrund hinter sich und hängt das Ruder
wieder in die Backborddolle ein.
Dann rudert er an Land, die gebrochenen Finger seiner linken Hand pochen und schmerzen. Der kleine Schöpfjunge
kauert wie eine zitternde Galionsfigur im Bug des Kahns.
»Holt ihn raus!«, ruft jemand hinter ihm.
Es platscht an der Bordwand des Frachters, und Schreie
hallen über das Wasser, als Lass-Jans lebloser Körper über die
Reling der Wind gezogen wird. Der Vorarbeiter wird in Sicherheit gebracht, das Wasser aus ihm herausgepresst, er wird ins
Leben zurückgeschüttelt. Er hat Glück gehabt, denn er kann
nicht schwimmen. Nils ist einer der wenigen im Dorf, die das
können.
Nils' Blick ist in weite Ferne gerichtet, zur geraden Linie
des Horizonts. Die Sonne hat dort ein paar Lücken in der
Wolkendecke gefunden, sie scheint aufs Wasser und lässt es
erstrahlen wie einen Fußboden aus Silber.
Trotz der Schmerzen in der linken Hand ist jetzt alles gut.
Nils hat allen gezeigt, wem Stenvik gehört. Bald wird er dengesamten Norden Ölands besitzen und es mit seinem Leben
verteidigen, wenn die Deutschen kommen.
Der Bootsrumpf setzt auf, und Nils hebt das Backbordruder und springt hinaus. Er ist bereit, aber niemand greift
ihn an.
Auf dem Bootssteg stehen die Packer und sind wie gelähmt,
Frauen, Männer und Kinder. Sie sehen ihn schweigend und
verängstigt an. Maja Nyman scheint den Tränen nahe zu sein.
»Zum Teufel mit euch!«, brüllt Nils Kant ihnen entgegen
und wirft das Ruder auf die Steine.
Dann dreht er sich um und läuft ins Dorf, nach Hause zu
seiner Mutter Vera in dem großen, gelben Gutshaus.
Aber weder sie noch irgendjemand sonst weiß, was Nils
weiß: Er ist zu Größerem bestimmt, größer als Stenvik, so
groß wie ein Krieg. Eines Tages wird ganz Öland ihn kennen
und von ihm sprechen. Er spürt es.
4
G erlof Davidsson wartete auf seine Tochter.
Die Ölands-Posten lag vor ihm auf dem Schreibtisch, er las
einen Artikel über einen einundachtzigjährigen, altersdementen Mann aus Kastlösa im Süden der Insel, der spurlos
verschwunden war. Der Mann hatte gestern sein Häuschen
verlassen und war seitdem nicht mehr gesehen worden. Jetzt
suchten Polizei und Freiwillige in der Alvar nach ihm – sogar
einen Helikopter hatte man bei der Suche eingesetzt. Aber in
der Nacht war es sehr kalt gewesen, und die zuständigen Behörden waren sich nicht sicher, ob man ihn noch lebend bergen können würde.
Altersdement und einundachtzig. Gerlof selbst war nur
gut
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