Öland
ein Jahr jünger, sein achtzigjähriger Geburtstag stand vor
der Tür. Achtzig war noch kein Alter, aber dass ältere Menschen spurlos verschwanden, war natürlich begreiflicher als
das Verschwinden eines Kindes. Er faltete die Zeitung zusammen und sah auf die Uhr. Viertel nach drei.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, nahm er sein Selbstgespräch wieder auf. Er machte eine Pause, hustete und fuhr
fort: »Du bist noch so schön, wie ich dich in Erinnerung habe,
Julia. Jetzt, da du auf Öland bist, gibt es einige Dinge, die wir
tun müssen. Manches wirst du selbst in die Hand nehmen
müssen. Und endlich können wir uns unterhalten… Ich weiß,
dass ich nicht immer ein guter Vater gewesen bin, als du kleinwarst. Ich war viel weg, und du musstest mit deiner Schwester allein bei Ella in Borgholm bleiben, während ich zur See
gefahren bin. Aber es war nun einmal mein Beruf, Seemann
zu sein und die Ostsee zu befahren, weit weg von der Familie … Aber jetzt bin ich hier und fahre nirgendwo mehr hin.«
Er schwieg und starrte auf die Tischplatte. Er hatte seine
Rede für Julia in sein Notizbuch geschrieben. Seitdem sie ihm
mitgeteilt hatte, an welchem Tag sie auf der Insel ankommen
würde, hatte er versucht, sie auswendig zu lernen – und sie klang auswendig gelernt. Es musste ihm gelingen, sich wie ein
Vater anzuhören, der ganz normal mit seinem Kind spricht.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, versuchte Gerlof es
wieder. »Du bist noch so schön, wie ich dich in Erinnerung
habe.«
Oder hübsch? Hübsch war bestimmt eine bessere Beschreibung für eine Tochter, die einem gefehlt hat.
Etwas später, es war schon fast vier und noch eine Stunde bis
zum Abendessen, klopfte es an der Tür.
»Herein!«, rief er, und die Tür wurde geöffnet.
Boel steckte ihren Kopf ins Zimmer.
»Ja, er ist da«, sagte sie leise zu jemandem hinter ihr und
dann mit lauterer Stimme: »Sie haben Besuch, Gerlof.«
»Danke«, sagte er, und Boel lächelte und trat einen Schritt
zur Seite. Eine andere Frau kam zum Vorschein und machte
ein paar Schritte in den Flur.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist …«, setzte Gerlof an
und verstummte.
Er blickte in das Gesicht einer Frau mittleren Alters. Sie
trug einen zerknitterten Mantel und sah ihn mit müden Augen und tiefen Falten auf der Stirn an. Nach wenigen Sekunden wich sie seinem Blick aus und umschlang ihre braune
Umhängetasche, als wäre sie ein Schutzschild. Bedächtig zog
sie sich die Schuhe aus.
Allmählich erkannte Gerlof seine Tochter in dem faltenzerfurchten und ernsten Gesicht der Frau, aber Julia sah viel
müder aus, als er erwartet hatte. Viel müder und auch hagerer. Ihr Anblick ließ ihn an Bitterkeit und Selbstmitleid
denken.
Seine Tochter war alt geworden. War er selbst auch schon
so alt?
»Hallo, Gerlof«, sagte Julia und schwieg einen Augenblick,
ehe sie fortfuhr: »Ja, jetzt bin ich wieder hier.«
Gerlof nickte und bemerkte, dass sie ihn immer noch nicht
Papa nannte. Sie sagte »Gerlof« in einem Tonfall, als würde sie
mit einem entfernten Verwandten sprechen.
»Wie war die Fahrt?«, fragte er.
»Gut.«
Sie zog den Mantel aus, hängte ihn an einen Haken im Flur
und stellte ihre Tasche auf den Boden. Gerlof fand, dass sie
sich sehr langsam bewegte, kraftlos. Er wollte fragen, wie es
ihr gehe, aber das war vielleicht noch zu früh.
»Ja, es ist lange her.«
»Vier Jahre, glaube ich«, sagte Julia. »Mehr als vier Jahre.«
»Ja. Aber wir haben ja ab und zu telefoniert.«
»Ja. Ich hatte damals auch vor zu kommen, um dir beim
Umzug aus Stenvik zu helfen, aber das ging dann doch
nicht …«
Julia verstummte, und Gerlof nickte.
»Es ist auch so ganz gut gelaufen«, beruhigte er sie. »Ich
hatte viel Hilfe.«
»Schön«, sagte Julia. Sie zögerte und setzte sich dann auf
das gemachte Bett.
Gerlof erinnerte sich plötzlich an die kleine Rede, die er
eingeübt hatte.
»Jetzt, da du zurück bist«, sagte er, »gibt es einige Dinge, die
wir tun müssen …«
Aber Julia unterbrach ihn:
»Wo ist sie?«
»Was?«
»Du weißt schon«, drängte Julia. »Die Sandale.«
»Ach so. Ich habe sie hier im Schreibtisch.« Gerlof sah sie
an. »Aber ich dachte, wir könnten vielleicht erst …«
»Darf ich sie sehen?«, unterbrach Julia ihn wieder. »Ich
möchte sie gerne sehen.«
»Es könnte dich aber enttäuschen«, sagte Gerlof. »Es ist nur
ein Schuh. Er gibt uns
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