Öland
vorsichtig an.
»Ich habe sie sofort in die Tüte gesteckt, als ich sie bekommen habe«, erzählte Gerlof. »Es könnten Fingerabdrücke
dran sein …«
»Ich weiß«, sagte Julia.
Sie war so leicht. Wenn man als Mutter seinem Sohn eine
Sandale anzieht, hebt man sie bei der Haustür auf, ohne über
ihr geringes Gewicht nachzudenken. Dann stellt man sich
neben seinen Sohn, geht in die Hocke, spürt seine Körperwärme und nimmt seinen Fuß, während er sich am Pulli festhält, und er steht still oder erzählt etwas, dieses Kindergeplapper, dem man nur halb zuhört, weil man in Gedanken
woanders ist. Bei unbezahlten Rechnungen. Abwesenden
Männern.
»Ich brachte Jens bei, sich die Schuhe selbst anzuziehen«,
sagte Julia. »Es hat den ganzen Sommer gedauert, aber als ich
im Herbst mit der Ausbildung anfing, konnte er es.« Sie hielt
den Schuh weiter fest. »Und darum konnte er auch an dem
Tag alleine rausgehen, sich rausschleichen … Er hat sich die
Schuhe selbst angezogen. Wenn ich es ihm nicht beigebracht
hätte, wäre er nicht …«
»Du darfst so nicht denken.«
»Was ich meine, ist … dass ich es ihm nur beigebracht habe,
um mehr Zeit zu haben«, gestand Julia. »Zeit für mich selbst.«
»Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Julia«, sagte Gerlof.
»Danke für diesen Rat«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen,
»aber das mache ich schon seit über zwanzig Jahren.«
Es wurde still, und Julia erkannte, dass ihre Erinnerung
nicht mehr aus weißen Knochensplittern am Strand von Stenvik bestand. Sie sah ihren lebenden Sohn, wie er sich bückte,um sich mit größter Konzentration die Sandalen anzuziehen,
mit kleinen Fingern, die schwer zu dirigieren waren.
»Wer hat sie gefunden?«, fragte sie und sah Gerlof an.
»Ich weiß es nicht. Sie kam mit der Post.«
»Von wem?«
»Es stand kein Absender drauf«, sagte Gerlof. »Es war
nur ein brauner Umschlag mit einem unscharfen Poststempel. Aber ich glaube, dass er auf Öland abgeschickt worden
ist.«
»Kein Brief?«
»Nichts«, sagte Gerlof.
»Und du weißt nicht, wer ihn geschickt hat?«
»Nein«, erwiderte Gerlof, sah Julia dabei jedoch nicht mehr
in die Augen, sondern senkte den Blick und schwieg. Vielleicht wusste er mehr, als er erzählen wollte.
Julia seufzte.
»Aber wir können etwas anderes tun«, warf Gerlof schnell
ein. Dann schwieg er erneut.
»Und was?«, fragte Julia.
»Ja …«
Gerlof blinzelte, ohne zu antworten, und sah sie an, als
hätte er bereits vergessen, warum er sie überhaupt hergebeten hatte. Aber Julia hatte auch keine Idee, was sie tun könnten, und sagte kein Wort. Ihr fiel plötzlich ein, dass sie sich
noch gar nicht im Zimmer ihres Vaters umgesehen hatte; sie
war darauf fixiert gewesen, die Sandale zu sehen.
Jetzt sah sie sich um. Als Krankenschwester entdeckte sie
sofort die Alarmknöpfe, die an der Wand angebracht waren,
als Tochter fiel ihr auf, dass Gerlof alle Erinnerungsstücke an
die Seefahrt aus dem Sommerhaus mitgenommen hatte. Die
drei Namensschilder aus lackiertem Holz seiner Frachter
Wellenreiter, Wind und Nore hingen über gerahmten Schwarz-Weiß-Fotografien der Schiffe. An einer anderen Wand hingen
Schiffsmessbriefe hinter Glas, mit Stempel und Siegel. Im Bücherregalneben Gerlofs Schreibtisch standen seine in Leder
gebundenen Logbücher und daneben Schiffsmodelle, die
kerzengerade in ihren Glasflaschen segelten.
Alles war so adrett geordnet wie in einem Schifffahrtsmuseum, abgestaubt und blitzblank, und Julia gestand sich ein,
dass sie ihren Vater darum beneidete, mit seinen Erinnerungen in einem Raum leben zu können und nicht in die Welt
dort draußen zu müssen, in der man gezwungen war, Dinge
zu erreichen, jung und clever zu wirken und ständig seinen
Wert beweisen zu müssen.
Auf dem Nachttisch neben Gerlofs Bett lagen eine schwarze Bibel und ein halbes Dutzend Pillendosen. Julia sah wieder
zum Schreibtisch.
»Du hast gar nicht gefragt, wie es mir geht, Gerlof«, sagte
sie leise.
Gerlof nickte.
»Und du hast nicht Papa zu mir gesagt«, gab er zurück.
»Wie geht es dir denn?«, fragte er.
»Gut«, antwortete Julia kurz.
»Arbeitest du noch im Krankenhaus?«
»Ja, klar«, sagte sie, ohne zu erwähnen, dass sie auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben war. Stattdessen sagte sie:
»Ich bin auf dem Weg hierher durch Stenvik gefahren. Ich
habe mir das Haus angesehen.«
»Schön. Wie sah es denn da unten aus?«
»Wie
Weitere Kostenlose Bücher