Öland
Sie hatte sich nie im Dunkeln gefürchtet und war es gewohnt, alleinzu sein. Eine oder zwei Nächte würde sie es schon
aushalten. Und dann wieder nach Hause fahren.
Julia hatte ihre Umhängetasche und den Koffer dabei, als
sie das Vorhängeschloss an der weißen Tür des Bootshauses
öffnete. Ein letzter kalter Windstoß kam vom Sund und
drückte sie in das dunkle Haus.
Als die Tür zuschlug, wurde der Herbstwind abrupt abgeschnitten. Zwischen den Wänden wurde es ganz still.
Sie machte Licht und blieb im Türrahmen stehen.
Gerlof hatte recht gehabt. Das Bootshaus sah nicht mehr
aus wie in ihrer Erinnerung.
Das war nicht mehr der Arbeitsraum eines Fischers voller
stinkender Netze, zerplatzter Schwimmer und vergilbter
Ausgaben der Ölands-Posten auf dem Boden. Seit Julias letztem
Besuch in der Hütte hatte ihre Schwester den Fußboden komplett erneuern lassen und das Bootshaus wie einen kleinenPartyraum eingerichtet, mit geschliffenen Holzpaneelen und
lackierten Kieferndielen. Es gab einen kleinen Kühlschrank,
eine Stromheizung und eine Kochplatte am Fenster zum
Strand. Unter dem anderen Fenster zur Landseite stand auf
einem Tischchen ein großer Schiffskompass aus Bronze und
poliertem Messing; ein weiteres Erinnerungsstück aus Gerlofs Jahren auf See.
Die Luft im Bootshaus war trocken. Nur schwach roch es
nach Teer, und es würde noch besser riechen, sobald Julia die
Rollgardinen hochzog und das kleine Fenster öffnete. Hier
konnte man ohne Weiteres wohnen, wenn man einmal von
der totalen Einsamkeit absah.
Vermutlich war Ernst Adolfsson am Steinbruch ihr nächster Nachbar. Ernst war einen alten Volvo PV gefahren, den sie
jetzt gerne die Hauptstraße herunterfahren sehen würde,
aber als sie aus dem Fenster über dem Kompass schaute, bewegte sich draußen nichts, nur das dünne Gras im Wind auf
der Landborg, jener für die öländische Küste so typischen
Steilkante.
Im Bootshaus gab es zwei schmale Betten. Auf das eine
legte sie ihre Sachen: Kleidungsstücke, Kulturbeutel, das
zweite Paar Schuhe und den Stapel mit den romantischen
Heftchenromanen, die sie ganz unten in die Tasche gestopft
hatte und nur heimlich las. Sie legte die Romane auf den
Tisch neben dem Bett.
Neben der Tür hing ein kleiner Spiegel mit lackiertem
Holzrahmen, und Julia betrachtete eingehend ihr Gesicht. Sie
sah alt und müde aus, aber ihre Haut war nicht mehr ganz so
grau wie in Göteborg. In dem rauen Wind auf der Insel hatten
ihre Wangen tatsächlich ein bisschen Farbe bekommen.
Was sollte sie jetzt machen? Sie beschloss, auf Entdeckungstour zu gehen.Julia spazierte langsam zum Strand und nach Süden am Wasser entlang. Es fiel ihr immer leichter, über die Steine zu laufen, weil sie etwas von ihrem Gleichgewichtssinn zurückgewann, den sie als Schulmädchen in Stenvik hatte, als sie den
ganzen Tag über die Steine am Wasser gesprungen war.
Schräg gegenüber vom Bootshaus lag Gråöga , das Graue
Auge, das im Laufe der Jahre von den Wellen und vom Wintereis näher zum Strand gezogen worden war. Gråöga war ein
meterhoher, länglicher Findling, der aussah wie ein Pferderücken. Julia hatte ihn vor langer Zeit zu ihrem Stein auserkoren und gab ihm einen Klaps, als sie daran vorbeiging.
Er schien mit den Jahren tiefer in den Erdboden gesunken zu
sein.
Auch die Windmühle wirkte kleiner. Die alte Windmühle,
die auf der Kante des Hangs oben auf der Landborg stand, nur
ein paar hundert Meter südlich vom Bootshaus, war das
höchste Gebäude in Stenvik. Als Julia näher kam, erwies sich
der Hang jedoch als zu steil, um hinaufklettern zu können.
Südlich der Mühle standen weitere Bootshäuser, an der
tiefsten Stelle der Bucht, wo im Sommer der lange Badesteg
aufgestellt wurde. Jetzt war dort kein Mensch.
Julia ging zur Landstraße hinauf und in nördlicher Richtung an Gerlofs Bootshaus vorbei. Sie blieb stehen und
schaute über den Sund zum Festland. Småland war nur ein
schmaler grauer Streifen am Horizont. Kein Schiff fuhr vorbei.
Julia drehte sich langsam einmal um sich selbst, um die
ganze Umgebung zu erfassen, als sei die Küstenlandschaft
ein Rätsel, das sie lösen könnte, wenn sie nur die richtigen
Details entdeckte.
Und wenn tatsächlich geschehen war, was alle befürchteten, wenn es Jens gelungen war, zum Wasser zu gelangen,
dann musste er hier durch den Nebel gelaufen sein.
Nach einigen hundert Metern kam sie zum
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