Öland
seine Mutter ihm nach der Schlägerei
mit Lass-Jan vor ein paar Jahren gesagt hat, er könne nicht
mehr im Steinbruch arbeiten. Keiner der Steinmetze wolle
ihn dort sehen. Das machte Nils nichts aus, er hatte sich ohnehin geweigert, zu den Steinen zurückzukehren, hatte sich
auch geweigert, sich zu entschuldigen. Das einzig Ärgerliche
war, dass seine Mutter Lass-Jan Lohn für die Wochen zahlen
musste, in denen der Vorarbeiter nicht im Steinbruch arbeiten konnte, weil seine gebrochenen Finger verheilen mussten.
Verdammt. Dabei war doch alles Lass-Jans Schuld gewesen!
Nils hat auch ein Andenken an die Schlägerei zurückbehalten: zwei gebrochene Finger an der linken Hand. Er hat sichtrotz der Schmerzen geweigert, zum Arzt nach Marnäs zu gehen, weshalb die Finger schief zusammengewachsen sind,
sich gekrümmt haben und nur schwer bewegen lassen. Aber
das macht nichts, er ist Rechtshänder und kann seine Flinte
auch so halten.
Die Leute im Ort meiden ihn, aber das macht ihm nichts
aus. Maja Nyman hat ein paar Mal an der Landstraße gestanden, als er auf dem Weg in die Alvar gewesen ist, aber sie hat
ihn nur schweigend angesehen, so schweigend wie alle anderen. Maja hat große blaue Augen, aber Nils kommt auch ohne
sie zurecht.
Nils hat von seiner Mutter die doppelläufige Husqvarnaflinte bekommen, damit er Gesellschaft hat. Er bringt ihr
dafür alle Hasen, die er erlegt, damit sie sich nicht von den
geizigen Bauern im Ort überteuertes Fleisch andrehen lassen
muss.
Der weiße Kirchturm von Marnäs steht im Osten am Horizont, aber Nils benötigt keine Orientierungspunkte. Er hat
gelernt, sich im Labyrinth der Alvar aus Steinwällen, Felsen,
Büschen und endlosen Grasflächen zurechtzufinden.
Schräg vor ihm liegt der Opferhügel: Der niedrige Steinhaufen soll an einen Mord erinnern. Ein verrückter Knecht
hat dort, Hunderte von Jahren vor Nils’ Geburt, einen Priester
oder Bischof erschlagen. Leute, die an ihm vorbeikommen,
legen auch heute noch kleine Steine darauf. Nils tut das nie,
aber es ist ein guter Platz, um sich hinzusetzen und seine
Brote zu essen.
Er bleibt stehen, überlegt kurz und spürt Appetit. Er geht
zum Opferhügel und setzt sich, die Flinte dicht neben sich
und den Rucksack auf den Knien.
Er öffnet ihn und findet darin zwei Käse- und zwei Wurstbrote sowie eine kleine Flasche mit eiskalter Milch. Seine
Mutter hat ihm das eingepackt; und Nils hat, ohne zu fragen,
den Flachmann aus Kupfer für seine Westentasche mit demCognac gefüllt, den seine Mutter in der hintersten Ecke der
Speisekammer verwahrt.
Er eröffnet seine Frühstückspause, indem er den Flachmann aufdreht und einen großen Schluck nimmt, woraufhin
sich eine wohlige Wärme im Hals ausbreitet, anschließend
sind die Brote dran. Er isst und trinkt mit geschlossenen Augen und lässt seinen Gedanken freien Lauf.
Nils denkt an die Jagd. Heute hat er noch keinen Hasen
erlegt, aber ihm bleibt auch noch der ganze Nachmittag.
Dann denkt er an den Krieg, der noch immer die Nachrichten beherrscht, sobald man das Radio einschaltet.
Schweden ist nicht angegriffen worden, obwohl im Sommer 1941 drei Zerstörer aus Versehen in das Minenfeld vor
der Südspitze Ölands geraten und in die Luft gesprengt worden sind. Über hundert von Hitlers Soldaten sind über Bord
gegangen und ertrunken oder in den brennenden Ölteppichen umgekommen. Viele Öländer sind sicher gewesen, der
Krieg sei nun auch bei ihnen ausgebrochen, als im darauffolgenden Jahr ein deutscher Bomber aus unbekanntem Grund
acht Bomben über dem Wald südlich der Schlossruine von
Borgholm abgeworfen hat.
Die Explosionen sind sogar in Stenvik zu hören gewesen.
Nils ist von dem dumpfen Dröhnen aufgewacht und hat mit
klopfendem Herzen aus dem Fenster gestarrt; er hätte schwören können, dass er das Motorengeräusch des Flugzeugs gehört hat, als es die Insel wieder verlassen hat. Vielleicht eine
Messerschmitt. Er hat gelauscht und sich mehr Explosionen
gewünscht, einen Bombenregen über Stenvik.
Aber es hat keine deutsche Invasion gegeben, und jetzt ist
es für Hitler leider zu spät. Nils hat die Berichte in der Ölands-Posten über die große Kapitulation von Stalingrad im bitterkalten Winter zu Beginn dieses Jahres gelesen. Hitler scheint
doch ein Verlierer zu sein.
Nils hört hinter sich ein Pferd wiehern. Er öffnet die Augenund dreht sich um. Hinter ihm sind sogar mehrere Pferde.
Vier
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