Öland
dass es im
Bootshaus kein fließendes Wasser gab und sie sich am Sommerhaus einen Eimer Frischwasser holen müsste.
Drei Tage nach dem schweren Sturm erhielten sie die Neuigkeiten
vom Kap im Norden der Insel: Ein Schiff war drei Tage zuvor bei
Böda auf Grund gelaufen und in den Wellen zerschellt. Das Schiff
stammte von der estnischen Insel Ösel. Die gesamte Besatzung war
im Sturm ertrunken. Der Seemann, den die Fischer gesehen und gehört hatten, war also bereits tot gewesen. Tot und ertrunken.
Oma Sara hatte Julia vielsagend zugenickt.
Ein Strandgespenst.
Julia hatte die Geschichte geglaubt; es war eine gute Geschichte, außerdem glaubte sie alle alten Geschichten, die
man ihr in der Stunde der Schatten erzählte. Irgendwo an der
Küste wanderte dieser ertrunkene Seemann bestimmt noch
immer einsam umher.
Julia wollte nicht mehr hinaus. Sie beschloss, kein Wasser
zu holen, das Zähneputzen auszulassen.
Im Fenster des Bootshauses standen dicke rote Kerzen. Sie
zündete eine an, bevor sie sich hinlegte, und ließ sie eine
Weile brennen.
Eine Kerze für Jens. Sie brannte auch für seine Mutter.
Im Schein der Flamme beschloss sie: kein Wein und keine
Schlaftabletten. Sie wollte ihren Kummer anders bekämpfen.
Er war ohnehin allgegenwärtig, nicht nur in Stenvik.
Als sie auf dem Bett neben Lenas Handy auch ihr kleines
Adressbüchlein liegen sah, griff sie spontan danach, suchte
eine Nummer heraus und wählte sie.
Es funktionierte. Zweimal klingelte es, dann ein drittes
und ein viertes Mal.
Schließlich meldete sich eine belegte Männerstimme.
»Hallo?«
Es war schon halb elf an einem normalen Arbeitstag. Julia
hatte zu spät angerufen, musste jetzt jedoch etwas sagen:
»Michael?«
»Ja?«
»Ich bin es, Julia.«
»Ach, du bist’s … Hallo, Julia.«
Er klang eher müde als überrascht. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Michael jetzt aussah, aber es gelang ihr nicht.
»Ich bin auf Öland. In Stenvik.«
»Aha … Ich bin in Malmö, wie immer. Ich war schon im Bett
und habe geschlafen.«
»Ich weiß, dass es spät ist«, entschuldigte sie sich. »Ich
wollte nur erzählen, dass eine Spur aufgetaucht ist.«
»Eine Spur?«
»Von unserem Sohn«, erklärte sie. »Von Jens.«
Er schwieg einige Sekunden.
»Aha«, sagte er dann.
»Darum bin ich hierhergefahren. Ich dachte, du willst das
vielleicht wissen. Es ist vielleicht keine wichtige Spur, aber
unter Umständen kann …«
»Wie geht es dir, Julia?«
»Gut … Ich kann ja anrufen, wenn sich etwas Neues ergibt.«
»Tu das«, sagte er. »Meine Nummer scheinst du ja noch zu
haben. Aber ruf das nächste Mal bitte ein bisschen früher an.«
»Okay, Tschüss«, verabschiedete sie sich schnell.
»Tschüss, mach’s gut.«
Michael legte auf.
Julia sah das Handy an. Jetzt wusste sie zwar, dass es funktionierte, aber auch, dass sie die falsche Person angerufen
hatte.
Michael hatte schon vor langer Zeit nach vorn geschaut. Er
war sich von Anfang sicher gewesen, dass Jens ertrunken war.
Manchmal hatte sie ihn für seine Gewissheit gehasst, manchmal aber auch beneidet.
Als Julia wenige Minuten später das Licht löschte, fiel der
Platzregen, der schon den ganzen Abend in der Luft gehangen hatte.
Er brach mit einem wütenden Prasseln auf das Blechdach
des Bootshauses los. Julia lag in der Dunkelheit und hörte,
wie sich an der Böschung kleine, rauschende Bächlein bildeten. Sie wusste, dass dem Bootshaus nichts geschehen würde,
denn es hatte schon harte Stürme überstanden, schloss die
Augen und schlief ein.
Sie hörte nicht, dass der Regen eine halbe Stunde später
aufhörte. Sie hörte keine Schritte beim Steinbruch, sie hörte
gar nichts.
STENVIK, MAI 1943
N ils gehört der Strand schon seit Langem, ihm gehört Stenvik, und jetzt gehört ihm auch die ganze Alvar, die sich hinter
seinem Dorf erstreckt. Wenn seine Mutter keine Hilfe im Haus
oder Garten braucht, durchstreift er sie jeden Tag mit langen
Schritten. Im goldenen Sonnenschein wandert er über die
öländische Steppe, einen Rucksack auf den Schultern und
seine Schrotflinte in der Hand.
Die Hasen ducken sich meistens im Gebüsch, bis sie glauben, entdeckt worden zu sein. Dann jagen sie in voller Fahrt
über die Steppe, und es gilt, die Flinte möglichst schnell anzulegen. Nils ist immer bereit, wenn er auf der Jagd ist.
Sein Zuhause und die Alvar sind die einzigen Welten, in denen er sich bewegt, seit
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