Öland
stünde
er in der Kälte an Deck eines Schiffs. Wenige Minuten später
war die Welt in einen weißen Schleier gehüllt, in dem nichts
mehr zu sehen war.
Er hätte nach Hause gehen müssen, zu Ella und Jens, hatte
sogar überlegt, es zu tun. Aber er war beim Bootshaus geblieben und hatte noch eine Zeit lang an den Netzen gearbeitet.
Da er jedoch die ganze Zeit am Bootshaus geblieben war
und ein gutes Gehör hatte, wusste er eines ganz sicher, wovon
er allerdings niemanden hatte überzeugen können, außer
vielleicht Julia: Jens war an jenem Tag nicht am Wasser gewesen. Gerlof hätte ihn gehört. Die Geräusche wurden durch
den Nebel zwar gedämpft, aber man konnte sie hören. Jens
war nicht ertrunken, wie die Polizei glaubte, sein Körper war
nicht von der Strömung hinausgezogen worden.
Jens war woanders hingegangen.
Gerlof beugte sich über den Schreibtisch und notierte
einen einzigen Satz:
DIE ALVAR IST WIE EIN MEER.
Ja. Dort draußen konnte alles geschehen.
Er legte den Kugelschreiber auf den Schreibtisch und
klappte das Notizbuch zu. Als er die Schublade herauszog,
fiel sein Blick erneut auf die Sandale in ihrem Seidenpapier.
Daneben lag ein dünnes Buch, das Anfang des Jahres veröffentlicht worden war.
Es war ein Jubiläumsbuch, sechzig Seiten lang, mit dem
Titel 40 Jahre Malmfrakt . Darunter war das Foto eines Schiffes
abgebildet.
Dieses Buch hatte ihm Ernst bei seinem letzten Besuch vor
zwei Wochen geliehen.
»Das könnte was sein«, hatte er gesagt. »Sieh dir mal Seite
achtzehn an.«
Jetzt nahm Gerlof das Buch aus der Schublade, schlug es
auf und blätterte bis zu der Seite. Unter dem Text war ein
kleines Schwarz-Weiß-Foto abgedruckt, das er schon viele
Male studiert hatte.
Das Bild war alt. Man sah eine Kaimauer in einem kleinen
Hafen, auf dem Kai lag eine Ladung gestapelter Holzbretter.
Schräg hinter dem Holzhaufen war der Achtersteven eines
kleineren Segelschiffes zu erkennen, das Gerlofs Schiff sehr
ähnlich sah, und neben dem Haufen hatte sich eine Gruppe
von Männern in dunkler Arbeitskleidung und mit Schiffermützen aufgestellt. Zwei Männer standen breitbeinig vor dieser Gruppe, einer von ihnen hatte seine Hand freundschaftlich auf die Schulter des anderen gelegt.
Gerlof starrte die Männer an, sie starrten zurück.
Da klopfte es an der Tür.
»Abendkaffee, Gerlof«, sagte Boels Stimme.
»Ich komme«, antwortete Gerlof und schob den Stuhl zurück.
Er erhob sich mühsam vom Schreibtisch, aber es fiel ihm
schwer, den Blick von den Männern abzuwenden.
Keiner von ihnen lächelte, und auch Gerlof lächelte nicht,
denn nach seinem letzten Gespräch mit Ernst war er ziemlichsicher, dass einer der Männer auf dieser alten Fotografie
den Tod seines Enkelkindes Jens verursacht und den Jungen
heimlich vergraben hatte.
Er wusste nur nicht, welcher der beiden.
Mit einem Seufzer klappte er das Büchlein zu und legte es
in die Schreibtischschublade. Dann nahm er seinen Stock
und ging Kaffee trinken.
7
A uf Öland bricht der Tag mit einem lautlosen gleißenden
Licht entlang dem schnurgeraden Horizont an, aber Julia verschlief an diesem Oktobermorgen den Sonnenaufgang.
Vor allen drei Fenstern in Gerlofs Bootshaus hingen kleine
Rollos, die früher dunkelrot gewesen, mittlerweile aber von
der Sonne ausgeblichen und hellrosa waren. Kurz vor halb
neun löste sich die Arretierung des Rollos neben Julias Bett,
es schnellte hoch und rollte sich mit einem Knall auf, der in
der Stille wie ein Donnerschlag klang.
Julia öffnete die Augen. Nicht der Knall hatte sie geweckt,
sondern das Sonnenlicht, das so unvermittelt ins Zimmer
schien. Sie blinzelte und hob den Kopf. Sie sah windgepeitschtes herbstgelbes Gras vor dem Fenster und erinnerte
sich, wo sie war. Harter Wind und lichtdurchflutete Luft.
Stenvik .
Sie blinzelte erneut, versuchte den Kopf hochzuhalten,
sank aber schnell wieder ins Kissen. Sie war schon immer ein
Morgenmuffel gewesen, und in den letzten zwanzig Jahren
war der Schlaf des Vergessens allzu oft sehr verlockend gewesen.
In Stenvik aufzustehen fiel ihr besonders schwer, weil es
nicht einmal ein warmes Badezimmer gab, in das man trotten konnte. Vor dem Bootshaus gab es nur einen steinigen
Strand und eiskaltes Wasser.
Julia erinnerte sich an das Prasseln des strömenden Regens,
als sie gestern zu Bett ging, aber jetzt hörte man nur noch die
Wellen am Strand. Das rhythmische Brausen
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