Öland
junge, weiß und braun gefleckte Tiere tauchen hinter
dem Opferhügel auf und traben in einem sanften Bogen um
ihn herum, mit gesenktem Kopf und Staubwolken unter den
Hufen. Sie bewegen sich nahezu lautlos auf der Grassteppe.
Pferde. Sie sind überall in der Alvar und immer in Herden
unterwegs. Nils ist schon mehrfach, weil er nach Hasen Ausschau gehalten und nicht auf den Boden vor sich geachtet
hat, mit seinen Stiefeln in ihre Haufen getreten.
Die kleine Herde scheint ein Ziel zu haben, aber als Nils
einen gellenden Pfiff ausstößt und seine linke Hand in den
Rucksack schiebt, verringert das Leittier sein Tempo und
dreht den Kopf zu Nils.
Alle Pferde bleiben in einer Reihe stehen und sehen zu
Nils. Eines senkt den Kopf, um am gelben Gras der Steppe zu
schnuppern, ohne jedoch zu grasen. Sie warten auf bessere
Leckerbissen.
Nils hat eine Hand noch im Rucksack und raschelt mit
dem leeren Butterbrotpapier darin, die rechte Hand legt er
neben sich auf die Steine des Mahnmals.
Die Pferde zögern, schnauben und scharren mit den Hufen. Nils raschelt erneut mit dem Papier, woraufhin der dunkelbraune Anführer der Herde vorsichtig einen Schritt auf
Nils zumacht. Die anderen folgen ihm langsam, mit leicht
vibrierenden Nüstern, zum Opferhügel.
Der Dunkelbraune bleibt nur fünf Meter entfernt stehen.
»Komm zur Krippe, Kleiner«, sagt Nils und lächelt verkrampft.
Auf die Art lassen sich nur Pferde anlocken, Hasen nicht.
Der Anführer schüttelt seinen großen Kopf und wiehert
leise.
Als er noch ein paar Schritte näher kommt, hebt Nils seine
rechte Hand und wirft den ersten Stein.
Volltreffer! Der stumpfe Kalkstein trifft das Tier direktüber dem Maul, und es zuckt zusammen wie nach einem
Stromschlag. Es springt verstört zurück, stößt gegen das Tier
hinter sich und dreht in blinder Panik um, als Nils aufsteht
und den nächsten Stein wirft. Er ist flacher und scharfkantiger und fliegt wie ein Sägeblatt durch die Luft.
Er trifft das Leittier an der Flanke. Es wiehert laut und
ängstlich, und jetzt erkennen auch die anderen die Gefahr.
Sie drehen ab, jagen in vollem Galopp und mit trommelnden
Hufen über die Steppe und verschwinden hinter Sträuchern.
Nils ist zu aufgeregt, sein dritter Stein fliegt zu weit nach
links. Nicht gut! Er bückt sich schnell, aber der vierte Wurf ist
viel zu kurz.
Das Letzte, was er vom Leitpferd sieht, ist ein blutroter, glitzernder Streifen im Fell an seiner rechten Flanke. Die Wunde
ist tief, es wird Tage dauern, bis sie verheilt ist. Nils will später versuchen, den Stein zu finden, der das Pferd verletzt hat,
um nachzusehen, ob Blut daran ist.
Das Donnern der fliehenden Pferde verliert sich in der
Ferne. Es herrscht wieder Stille in der Alvar. Nils verschnauft
einen Moment, setzt sich auf den Steinhaufen und lächelt bei
dem Gedanken an den dümmlich verwirrten Ausdruck des
Leitpferdes, als der erste Stein es getroffen hat.
Nils hat ihnen gezeigt, wer in der Alvar um Stenvik das
Sagen hat. Er lächelt noch immer vor sich hin und hebt seinen Rucksack auf die Knie. Ob seine Mutter ihm ein paar Bonbons eingepackt hat?
6
E s war Abend im Altersheim. Gerlof saß an seinem Schreibtisch, das Notizbuch vor sich. Wenn Gerlof so an seinem Tisch
saß, fiel es ihm leicht, sich einzureden, dass er noch nicht so
alt war, wie er dachte, und noch ausreichend Kraft hatte. In
wenigen Minuten würde er aufstehen, sich strecken und seines Weges gehen.
Zum Strand von Stenvik gehen, den Kahn ins Wasser lassen
und zum Schiff hinausrudern, das in tieferem Wasser wartete. Den Anker lichten, die Segel setzen und sich in die weite
Welt aufmachen.
Es hatte Gerlof schon immer fasziniert, dass ein Seemann
von der öländischen Küste jede andere Küste ansteuern
konnte, die ihm gefiel. Mit ein wenig Glück, viel Geschick,
der richtigen Ausrüstung und einem großen Vorrat an Bord
konnte er von Öland jeden beliebigen Hafen der Welt ansteuern und danach zurückkehren. Phantastisch. Was für
eine Freiheit.
Ein paar Minuten später klingelte die Glocke zum Abendessen, und Gerlof war zurück in seinem kraftlosen Körper.
Seine Beine waren steif, seine Arme würden nie wieder ein
Segel hissen können.
Sie waren schnell vergangen, die Jahre auf See. Genau genommen waren es auch gar nicht so viele gewesen. Als Bootsmann hatte Gerlof seinen Vater Ende der Zwanzigerjahre aufdessen Galeasse Ingrid Maria begleitet, und
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