Öland
Wolkenbruch. Das Regenwasser stand noch in
den Spurrillen wie in länglichen Pools; sie wurde langsamer
und rollte im ersten Gang weiter, aber der Wagen rutschte
trotzdem.
Sie fuhr am Rand der Alvar entlang. Dann führte die Straße
zuerst entlang der Küstenstraße zum Steinbruch herab, dann
aber zu Ernst Adolfssons kleinem Haus hinauf. Sie endete in
einem kreisrunden Wendeplatz auf dem Hof vor dem Haus,
wo auch Ernsts alter weißer Volvo PV stand.
Ein weiterer flacher und polierter Stein mit schwarzem
Text stand in der Mitte des Wendeplatzes: STEINKUNST –
WILLKOMMEN.
Julia parkte hinter dem Volvo, stieg aus und holte ihr Portemonnaie aus der Tasche.
Der Wind fuhr über das flache Gras, die Landschaft war
nahezu baumlos. Auf der einen Seite des Gartens sah man
riesige Wunden im Berg, wo der Steinbruch gewesen war, aufder anderen Seite gab es nur Gras und vereinzelte Wacholderbüsche, so weit das Auge reichte. Die Alvar.
Sie drehte sich wieder um und betrachtete das Haus. Die
Tür war zu und alles still.
»Hallo?«, rief sie zaghaft.
Der Wind dämpfte ihr Rufen, es antwortete niemand.
Ein breiter Pfad aus Kalksteinsplittern führte zur Eingangstür an der Stirnseite des Hauses, wo sich auch eine Klingel befand. Julia klingelte. Auch jetzt kein Lebenszeichen. Sie
klingelte erneut. Nichts geschah.
Einem Impuls folgend, versuchte sie den Türgriff zu bewegen. Die Tür war nicht abgeschlossen und glitt einen Spaltbreit auf, als würde sie Julia zum Eintreten einladen.
Sie streckte den Kopf durch den Türspalt.
»Hallo?«
Niemand antwortete. Sie horchte auf das Geräusch schwerer Schritte und eines Stocks, der auf den Boden stößt, aber es
blieb still.
Er ist nicht zu Hause, fahr weiter zu Gerlof, sagte ihr eine innere Stimme. Aber sie war zu neugierig. Schloss man seine
Tür auf Öland nicht ab, wenn man das Haus verließ? Hatte
man noch immer so großes Vertrauen zueinander?
WILLKOMMEN stand auf einer grünen Plastikfußmatte
vor der Tür. Julia rieb sich ein paar Mal die Sohlen ab und
trat ein.
»Hallo?«, sagte sie. »Ernst? Ich bin es, Julia. Die Tochter von
Gerlof …«
Unter der Decke im Flur hing ein Mobile aus kleinen Holzschiffen, die sich im Luftzug drehten. Rechts war die Küche,
sauber und gewischt, mit einem kleinen Esstisch und zwei
Sprossenstühlen. Links vom Flur ging es ins Schlafzimmer
mit einem schmalen, gemachten Bett.
Der Flur endete in einem Wohnzimmer mit Sofa, Fernseher und einem Panoramafenster, das den Steinbruch undden blauen Sund dahinter präsentierte. Auf dem Tisch in
der Mitte lagen Stapel von Zeitungen und Büchern. An der
Wand hing eine sechseckige Uhr aus geschliffenem Kalkstein,
Schiefersplitter waren die Zeiger.
Das einzig Merkwürdige an dem Haus war, dass die Uhr offenbar das einzige Kunstobjekt aus Stein war. Begnügte Ernst
sich mit den Skulpturen im Freien?
Sie ging den Flur wieder zurück und sah sich ein paar Mal
um, als könnte jederzeit ein Angreifer aus einer Mauerritze
hervorstürzen, verließ das Haus und zog die Tür vorsichtig
hinter sich zu.
Julia stand im Sonnenschein und wusste nicht recht, was
sie als Nächstes tun sollte. Ernst Adolfsson war bestimmt irgendwo unterwegs und hatte vergessen abzuschließen.
Sie sah zu den Steinfiguren an der Kante des Steinbruchs.
Daneben stand ein kleiner rot gestrichener Arbeitsschuppen,
umgeben von niedrigen Birken, und auf einem Haufen vor
dem Schuppen lagen mehrere Blöcke und Steine in unterschiedlichen Größen. Man sah Schleifspuren auf ihnen, aber
sie wirkten noch unvollendet. Einige von ihnen sahen aus
wie verkrüppelte Menschen. Julia sah entstellte Gesichter
und schwarze Augenhöhlen in Stein und musste an Trolle
denken, die Menschenkinder entführten und für immer ins
Innere des Berges mitnahmen. Gerlof hatte mal erzählt, dass
immer den Trollen die Schuld gegeben wurde, wenn den Arbeitern im Steinbruch früher Werkzeug abhanden gekommen war. Damals war es undenkbar gewesen, dass einer der
Kameraden es gestohlen hatte.
Sie betrachtete die fertigen Steinkunstwerke an der scharfen Abbruchkante des Steinbruchs. Kleine Leuchttürme, runde Brunnendeckel, hohe Sonnenuhren und ein paar breite
Grabsteine, die nicht beschriftet waren.
Da fehlte etwas. In der Reihe der Skulpturen klaffte eine
breite Lücke. Sie hatte am Vorabend etwas von der anderenSeite des Steinbruchs gesehen: Der große Kirchturm fehlte,
der an die
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