Öland
ließ sie überlegen, ob sie sich die Kleider vom Leib reißen, nach unten rennen und ins Meer stürzen sollte. Aber das ging wieder vorbei.
Sie blieb noch ein paar Minuten in dem schmalen Bett liegen, stand dann aber auf.
Die Luft war feucht und kalt, und es stürmte noch immer,
aber das Stenvik, das sie jetzt sah, war nicht dieselbe Gespensterlandschaft wie am Abend zuvor.
Der strömende Regen hatte alles Grau fortgespült; jetzt
schien wieder die Sonne, und die öländische Küste war rein,
schroff und schön. Die Bucht, die dem Ort Stenvik ihren
Namen gegeben hatte, war nicht besonders tief, sie war sanft
gerundet und erstreckte sich zu beiden Seiten des Bootshauses, ausgehöhlt vom glitzernden Wasser des Sundes. Einige hundert Meter vom Ufer entfernt ruhten sich Möwen
mit ausgebreiteten Flügeln auf den Wellen aus und schrien
oder lachten einander durchdringend gegen den Wind an.
Julia hörte Hundegebell. Als sie den Kopf zur Küstenstraße
drehte, sah sie eine weißhaarige Frau in einem roten Steppanorak mit einem hellbraunen Hund spazieren gehen, der
hin und her sprang und am Boden schnüffelte. Ohne Julia zu
sehen, bog die Frau ab und ging mit schnellen Schritten in
eines der Häuser auf der anderen Seite der Straße.
Offenbar gab es außer Ernst noch andere Einwohner in
Stenvik, registrierte Julia.
Allmählich verschwand ihre Schläfrigkeit, sie war voller
Energie. Sie nahm einen Plastikeimer und ging zu Gerlofs
Sommerhaus, um ihn am Wasserhahn im Garten mit Trinkwasser zu füllen. Im Sonnenlicht sah das Haus richtig einladend aus, obwohl es so zugewachsen war, aber Gerlof hatte
ihr den Schlüssel nicht gegeben, sodass sie nicht hineingehen und sich ihr altes Kinderzimmer ansehen konnte.
Während sie den Eimer mit plätscherndem Wasser füllte,
überlegte sie, dass sie eigentlich doch länger als einen Tag auf
Öland bleiben konnte. Wenn es wirklich etwas Vernünftiges
zu tun gäbe, würde sie noch zwei oder drei Tage bleiben.
Dann sah sie sich im leeren Garten um und entschied sich
anders. Nein. Sie würde heute zurück nach Göteborg fahren,
aber erst später.
Auf dem Weg zum Bootshaus, den vollen Eimer fest in der
Hand, blieb sie kurz stehen, um sich das gelbe Haus hinter
der Sanddornhecke unterhalb des Sommerhauses anzusehen. Es war umgeben von hohen, wuchernden Eschen und
eigentlich nur schemenhaft hinter der Hecke zu erkennen,
aber was man sah, war nicht sonderlich schön. Das Haus
stand nicht nur leer, es war verfallen. Wilder Wein war an
den Wänden emporgeklettert und bedeckte zum Teil die zerbrochenen Fensterscheiben.
Julia erinnerte sich nur schwach an eine alte Frau, die dort
gewohnt hatte, nie vor die Tür gegangen war und zu keinem
aus dem Ort Kontakt gehabt hatte.
Es war merkwürdig, dass man dieses Haus verfallen ließ,
denn unter den Rissen und Wunden war es trotz allem einmal ein ziemlich prachtvolles Domizil gewesen.
Julia ging weiter zum Bootshaus, um Frühstück zu machen.
Fünfundvierzig Minuten später schloss sie das Bootshaus ab,
eine Tasche über die Schulter gehängt, die andere in der
Hand. Das Bett war gemacht, der Strom abgestellt, die Rollos
waren heruntergezogen. Das Bootshaus stand wieder leer.
Julia ging über die Landborg zu ihrem Auto, sah sich um,
konnte aber keine Menschenseele an der Küste entdecken
und stieg ein. Sie startete den Motor und sah ein letztes Mal
zum Bootshaus. Schnell wendete sie das Auto und bog auf die
Landstraße.
Sie fuhr an einem Bauernhof, der jetzt ein Sommerhaus
war, an dem gelben Haus und an dem Weg vorbei, der zu Gerlofs Sommerhaus führte. Lebewohl, Jens.
Links von der Hauptstraße führte ein Weg in eine weitere
Ferienhaussiedlung, und dort stand ein viereckiger Kalkstein,
der in die Erde eingegraben war und auf dem in weißen Lettern STEINKUNST 1 KM gemalt stand. Auf einem Eisenpfosten darüber hing ein Schild mit dem Sackgassensymbol.
Julia sah das Schild, und ihr fiel ein, was sie noch vorhatte,
ehe sie sich von Gerlof verabschiedete: am geschlossenen
Steinbruch anhalten und sich die Steinskulpturen von Ernst
Adolfsson ansehen.
Vielleicht konnte sie ihm sogar ein paar Fragen über Jens
stellen, zum Beispiel, wo er an jenem Tag gewesen war.
Sie bog in die kleine Straße ein, und der kleine Ford begann
sofort zu hüpfen und zu schlingern. Es war die schlimmste
Straße, die Julia auf Öland je befahren hatte, schuld war bestimmt der
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