Öland
Kirche von Marnäs erinnerte.
Julia ging vorsichtig an den geschliffenen Steinen vorbei,
und auf einmal lag der Steinbruch vor ihr wie ein riesiges
Schwimmbecken ohne Wasser.
Der Steinbruch war nicht besonders tief, aber der Fels fiel
senkrecht ab. Sie stand an der Abbruchkante und blickte
schweigend auf die karge Steinlandschaft, als sie plötzlich
unter sich den hohen Kirchturm entdeckte. Er war in den
Steinbruch gestürzt und zur Seite gekippt. Die Turmspitze
zeigte zum Wasser hin.
Der Kirchturm hatte den Sturz unbeschadet überstanden.
Aber unter der länglichen Skulptur lag Ernst Adolfsson.
Vom Grund des Steinbruchs starrte er mit blutendem Mund
und zerschmettertem Körper in den Himmel.
STENVIK, MAI 1945
A lles hat sich verändert. Große Dinge werden geschehen,
in der Welt und in Nils Kants Leben. Das spürt er am
Wind.
Die Sonne über der Alvar scheint stärker als je zuvor, die
öländischen Winde sind kräftiger, die Luft ist klarer, und die
Blumen blühen bereits. Das Gras ist grün und noch nicht von
der Sonne des Hochsommers verbrannt. Unscharfe und flimmernde kleine Striche in den Wolken werden zu Schwalben,
die wie schwarze Pfeile über die Ebene schweben, Geschwindigkeit aufnehmen, senkrecht in die Luft schießen, um wieder am Himmel zu kreisen.
Der Frühling ist endgültig auf Öland angekommen, und
Nils Kant spürt die Veränderungen in der Luft. Er ist jetzt fast
zwanzig Jahre alt, endlich erwachsen und frei. Das Leben
liegt vor ihm, große Ereignisse stehen bevor. Er fühlt es im
ganzen Körper.
Nils ist bald zu alt, um hier draußen durch die Stille zu
streifen und Hasen zu schießen. Er hat andere Pläne. Jetzt
nach dem Krieg will er in die weite Welt hinaus. Gerne würde
er Maja Nyman mitnehmen, das Mädchen, das in einem
Häuschen unten an der Landborg in Stenvik wohnt. Er weiß
genau, wie sie aussieht, und denkt oft an sie. Aber im Grunde
haben sie sich noch nie unterhalten, sich nur gegrüßt, wenn
sie sich begegneten und sie allein war. Sollte sich nicht baldeine Gelegenheit ergeben, mit ihr zu sprechen, würde er
wohl ohne sie reisen müssen.
An diesem Tag hat er sich weiter von Stenvik entfernt als
üblich und ist fast auf der östlichen Seite der Insel. Ehe er die
Landstraße überquert, hat er zwei Hasen geschossen, die er
unter einem Strauch liegen gelassen hat, um sie auf dem
Heimweg aufzusammeln. Er möchte noch einen oder zwei
Hasen erlegen, ehe er zu seiner Mutter zurückgeht, vielleicht
auch noch ein paar Schwalben, nur so zum Spaß.
Das Schmelzwasser steht noch in breiten Pfützen auf der
Alvar. Es ist, als würde man durch eine Moorlandschaft mit
zahllosen kleinen Seen gehen. Das Wasser verdampft in
der Sonne. Nils trägt hohe, dicke Stiefel und kann durch
die Pfützen waten, wenn er möchte. Manchmal tut er das,
manchmal geht er um sie herum. Er ist frei, ihm gehört die
ganze Welt.
Adolf Hitler hat versucht, die ganze Welt zu besitzen. Er ist
tot, hat sich vor ein paar Wochen in Berlin erschossen. Danach war es aus mit Deutschland. Keiner da unten wollte oder
konnte noch gegen die Russen und Amerikaner kämpfen.
Nils patscht in eine Pfütze und durchquert ein Gestrüpp
von Wacholderbüschen. Er erinnert sich, dass er Hitler früher
gut gefunden hat, zumindest hat er großen Respekt vor seinem starken Willen gehabt.
Andächtig hat er Ausschnitten aus Hitlers donnernder
Rede gelauscht, wenn seine Mutter das Radio im Wohnzimmer angestellt hat. Und er hat viele Jahre darauf gewartet,
dass deutsche Bomber über Öland schweben würden und
der Krieg endlich auch zu ihnen kam. Doch jetzt ist Hitler
weg und das riesige Deutschland zerstört von englischen
Bombern.
Deutschland ist nicht mehr so interessant, England hingegen ein verlockendes Land. Auch Amerika scheint ihm groß
und verheißungsvoll zu sein, aber zu viele Öländer sind bereitsdorthin gereist und niemals zurückgekehrt. Im 19. Jahrhundert verschwanden Tausende spurlos in dem riesigen
Land. Nils will die Welt bereisen und als Kaiser nach Stenvik
zurückkehren.
Er hört ein Geräusch, leise zwar, aber mit einem harten
Klang, und bleibt stehen.
Weit und breit ist kein Hase zu sehen, und trotzdem hat
Nils das Gefühl, als wäre da …
Er ist nicht allein.
Da draußen ist jemand.
Er hat etwas im Wind gehört, und es ist weder Vogelzwitschern noch Insektensurren oder Pferdewiehern gewesen. Er
streift
Weitere Kostenlose Bücher