Öland
seit Jahren durch die Alvar und weiß, wann die Dinge
sind, wie sie sein sollen, und wann sie das nicht sind. Hier
stimmt etwas nicht. Die Ungewissheit jagt ihm einen Schauer
über den Rücken.
Es ist kein Hase, es ist etwas anderes.
Wölfe? Nils’ Großmutter, die schon lange tot ist, hat ihm
Geschichten von Wölfen in der Alvar erzählt. Es hat hier einmal Wölfe gegeben. Aber jetzt nicht mehr.
Menschen?
Jemand, der sich anschleicht?
Nils nimmt seine Husqvarna von der Schulter, trägt sie im
Schützengriff mit beiden Händen und entsichert das Gewehr
mit dem Daumen. Zwei Schrotpatronen liegen bereit, abgefeuert zu werden.
Er sieht sich um: Wacholderbüsche wachsen hier fast überall, die meisten sind verkrüppelt und vom Wind gebeugt und
nicht mehr als einen Meter hoch, aber trotzdem sehr kompakt und undurchdringlich. Wenn Nils sich aufrichtet, kann
er sehen, so weit das Auge reicht, da kann sich niemand heimlich heranschleichen. Doch wenn er sich hinhockt, scheint
der Wacholderbusch über ihm zusammenzuwachsen, sich
über ihn zu beugen.
Er hört kein Geräusch mehr – wenn er denn eines gehört
hat. Vielleicht war es nur in seinem Kopf, das ist ihm in der
Einsamkeit schon öfter passiert.
Nils steht still, rührt sich nicht und wartet. Er atmet ruhig,
hat alle Zeit der Welt. Die Hasen kommen immer heraus,
wenn er auf sie wartet, ihre Nerven lassen sie irgendwann
im Stich, und sie stürzen sich aus ihrem Versteck, rasen blind
davon. Dann muss man nur ganz ruhig die Flinte heben, abdrücken und anschließend den noch schwach zuckenden
Körper aufsammeln.
Nils hält die Luft an. Er horcht.
Er hört immer noch nichts, aber der Wind hat aufgefrischt, und plötzlich riecht er ganz deutlich alten Schweiß
und öligen Stoff. Der scharfe Geruch eines menschlichen Körpers, oder mehrerer, weht ihm entgegen.
Da sind Menschen, und sie sind ganz in der Nähe.
Nils wendet sich mit dem Finger am Abzug nach rechts.
Ängstliche Augen starren ihn aus einem Wacholderbusch
an.
Das Gesicht eines Mannes nimmt unter dem dichten Busch
langsam Form an, grau von Schmutz und verschattet von verfilztem Haar. Hinter dem Kopf befindet sich ein Körper, dicht
auf den Boden gedrückt, in ausgebeulter, grüner Kleidung.
Einer Uniform.
Der Mann ist ein Soldat. Ein fremder Soldat, der jedoch
weder Helm noch Waffe trägt.
Nils hält sein Gewehr hoch, sein Herz pocht bis in die Fingerspitzen. Er hebt die Mündung ein paar Zentimeter höher.
»Herkommen«, sagt er mit lauter Stimme.
Der Soldat öffnet den Mund und sagt etwas. Das ist kein
Schwedisch, sondern eine fremde Sprache. Sie klingt wie
Deutsch.
»Was?«, ruft Nils. »Was sagst du?«
Der Soldat hebt langsam seine schmutzigen rissigen Hände,und gleichzeitig sieht Nils, dass er nicht allein in seinem Versteck gelegen hat. Schräg hinter ihm drückt sich ein zweiter
Mann in einer schmutzigen Uniform ins Gras. Beide sehen
aus wie gehetzte Tiere, als wären sie auf der Flucht vor
schrecklichen Erinnerungen.
» Bitte nicht schießen «, flüstert der Soldat, der Nils am nächsten steht.
8
Julia hatte Gerlof von Ernst Adolfssons Telefon aus angerufen und ihm erzählt, was geschehen war.
Gerlof hatte verstanden, was sie ihm erzählte, und es war
ihm gelungen, nicht zu viel zu denken oder zu empfinden,
sondern sich auf ihre Stimme zu konzentrieren. Sie klang natürlich angespannt, zitterte aber nicht. Julia hatte sich unter
Kontrolle.
»Dann ist Ernst also tot«, stellte Gerlof sachlich fest.
Es war still in der Leitung.
»Bist du sicher?«, fragte er nach.
»Ich bin Krankenschwester«, erwiderte Julia als Erklärung.
»Hast du die Polizei gerufen?«, fragte er.
»Ich habe den Notarzt angerufen«, erwiderte sie. »Sie wollten jemanden schicken. Aber er wird keinen Arzt mehr benötigen … Es ist zu spät.« Sie schwieg einige Sekunden. »Aber
die Polizei kommt bestimmt trotzdem, auch wenn es nur ein
Unfall gewesen ist. Er hat …«
»Ich komme zu dir«, sagte Gerlof. Er hatte sich entschlossen, als er die Worte aussprach. »Die Polizei wird bestimmt
bald da sein, aber ich komme auch. Setz dich bei Ernst aufs
Sofa und warte auf sie.«
»Ja, ich warte«, sagte Julia. »Ich warte auf dich.«
Sie klang unverändert ruhig.
Sie legten auf, und Gerlof blieb noch einen Moment am
Schreibtisch sitzen, um Kraft zu sammeln.
Ernst war tot. Diese Nachricht musste Gerlof erst einmal
verarbeiten. Er
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