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Öland

Öland

Titel: Öland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
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Grinsen hatte, aber nur sehr schlecht Englisch und kein einziges Wort Schwedisch sprach, eines Sommers plötzlich in Stenvik auftauchte und mit einer Tasche
     in der Hand von Haus zu Haus wanderte. Die Leute im Ort
     verschlossen ihre Türen und weigerten sich, ihm zu öffnen –
     und als es schließlich doch einer wagte, ihn zu fragen, was
     er denn wolle, zeigte sich, dass er ein gläubiger Christ aus
     Kenia war, der Bibeln und Liederbücher verkaufte. In Stenvik
     mochte man keine Unbekannten.
    »Ja, ja, wir hören voneinander«, sagte John Hagman.
    Julia beobachtete, wie er zum Haus ging und seinen Besen
     aufhob, als wäre dieser sein liebster Besitz. Mit dem Besen in
     der Hand führte sein Weg dann allerdings zu den Golfbahnen, wo er erneut anfing, mit seinem Sohn Anders zu diskutieren.
    »John hat diesen Campingplatz schon seit fünfundzwanzig Jahren«, sagte Gerlof. »Jetzt ist sein Sohn Anders verantwortlich, aber der ist ein Träumer. Es ist meistens John, der
     fegt, streicht und den Verfall aufzuhalten versucht. Er müsste
     es ein bisschen langsamer angehen lassen, aber er hört nicht
     auf mich.«
    Er seufzte.
    »Na gut, das war das«, sagte er dann. »Dann können wir ja
     jetzt zum Sommerhaus fahren.«
    Julia schüttelte den Kopf.
    »Ich fahre dich nach Marnäs«, sagte sie.
    »Ich würde gerne nach dem Haus sehen«, sagte Gerlof.
     »Wenn ich schon so einen guten Chauffeur habe.«
    »Es ist schon spät«, sagte Julia. »Ich wollte heute eigentlich
     nach Hause fahren.«
    »Das hat doch keine Eile, oder?«, fragte Gerlof. »Göteborg
     ist auch morgen noch da.«
    Julia wusste hinterher nicht mehr, ob sie oder Gerlof vorgeschlagen hatte, im Sommerhaus zu übernachten.
    Vielleicht entschied es sich, als Gerlof mit Mantel und
     Schuhen direkt ins Wohnzimmer ging und sich mit einem
     tiefen Seufzer in den einzigen Sessel fallen ließ. Oder als Julia
     hinausging, um das Wasserventil am Brunnendeckel aufzudrehen, und den Hauptschalter im Sicherungskasten in der
     Küche umlegte. Oder als sie die Lampen anmachte, die Heizkörper andrehte und ihnen auf dem Herd Holundertee
     kochte. Jedenfalls war es ein stillschweigendes Übereinkommen, dass sie in dieser Nacht in Stenvik bleiben würden. Julia
     schaltete ihr Handy ein und wählte die Nummer des Altersheims, damit Gerlof das Personal von seinem Entschluss in
     Kenntnis setzen konnte.
    Danach drehte Gerlof eine Runde übers Grundstück.
    »Keine Spuren von Mäusen«, sagte er zufrieden, als er ins
     Haus zurückkam.
    Julia sah sich stumm und vorsichtig in den dunklen Zimmern des Hauses um, als wäre sie in einem Museum. Hier war
     ein Teil ihrer Vergangenheit, vor allem ihrer Kindheit, aber
     sie kam ihr wie in Glasvitrinen gefangen vor.
    Was gab es in diesem Sommerhaus zu sehen? Nicht viel.
     Fünf kleine Zimmer mit Möbeln, die mit weißen Laken bedeckt waren, sechs schmale Betten ohne Bezüge, eine kleine
     Küche mit einem Fenster, auf dessen Sims die toten Fliegen
     lagen wie schwarze, wahllos verstreute Buchstaben. Eine
     alte, sonnenverblichene Seekarte von Nordöland hing an
     der Wand, und auf einer Kommode stand ein gerahmtes
     Schwarz-Weiß-Foto aus den Sechzigerjahren mit einer angestrengt lächelnden Julia als Teenager neben ihrer Schwester
     Lena. In einer Ecke des Raums war ein Bücherregal angebracht. Ansonsten befand sich in diesem Zimmer so wenig
     persönliches Eigentum wie in einem gewöhnlichen Ferienhaus, das man mieten konnte.
    Der Holzfußboden war ohne Teppiche und eiskalt. Nichts
     von dem, woran sich Julia aus ihrer Kindheit erinnerte, war
     noch da.
    Aber hatte es denn keine anderen persönlichen Dinge gegeben? Als Julia in ihrem früheren Zimmer die unterste
     Schublade der Kommode herauszog, entdeckte sie, wonach
     sie gesucht hatte: ein gerahmtes Foto eines kleinen, braun
     gebrannten Jungen in einem weißen Wollpulli, der schüchtern in die Kamera lächelte. Das Bild war dreiundzwanzig
     Jahre alt, und der Junge war Jens. Viele Jahre hatte das Foto
     auf der Kommode gestanden, jemand musste es weggeräumt
     haben.
    Julia stellte das Foto an seinen angestammten Platz zurück.
    Gerlof schritt gemächlich jedes Zimmer ab, als befände er
     sich in seinem richtigen Zuhause. Und das war es ja auch. Er
     hatte hier jeden Sommer und als Rentner sogar jedes Wochenende gewohnt, zuerst mit Ella, später allein, so lange
     Julia sich erinnern konnte. Er hatte am Gartenzaun gestanden und gewunken, wenn seine Kinder nach ein paar

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