Öland
wenigstens etwas Nützliches tun zu können. John
und Gerlof saßen auf dem Sofa und unterhielten sich leise
über Ernst.
Es waren nur kleine Anekdoten und Erinnerungsfetzen,
oft ohne Pointe, über die Missgeschicke, die Ernst als Anfänger im Steinbruch passiert waren, als er gerade nach Öland
gezogen war, oder über die schönen Kunstwerke, die er als
alter Mann in seiner Werkstatt geschaffen hatte. Julia erfuhr,
dass Ernst, abgesehen von wenigen Jahren als Seemann im
Krieg, fast sein ganzes Leben mit dem Formen von Stein
verbracht hatte. Als der Steinbruch in den Sechzigerjahren
schloss, hatte Ernst seine Arbeit selbstständig weitergeführt.
Er holte sich die Steinblöcke, die von den Steinmetzen auf
der Schutthalde liegen gelassen worden waren, und machte
Kunstwerke daraus.
»Er hat diesen Steinbruch geliebt«, fasste Gerlof zusammen
und sah aus dem Fenster. »Wenn er genug Geld gehabt hätte,
wäre er zu Gunnar Ljunger nach Långvik gefahren und hätte
ihm den Steinbruch abgekauft. Er wollte an keinem anderen Ort der Welt wohnen. Er wusste alles darüber, wie mandie verschiedenen Steinsorten meißelt, zerteilt und bearbeitet.«
»Ernst hat die schönsten Grabsteine gemacht«, sagte John.
»Wenn man über den Friedhof von Marnäs oder Borgholm
geht, kann man sie alle sehen.«
Julia saß schweigend daneben und starrte auf den Stapel
alter Bücher über Heimatkunde, die auf Ernsts Couchtisch
lagen. Sie versuchte wirklich, John und Gerlof zuzuhören,
hatte aber Schwierigkeiten, den Anblick von Ernsts Leichnam
zu vergessen.
Lennart Henriksson, der als Erster am Unglücksort gewesen war, hatte eine Decke aus seinem Auto über Ernst ausgebreitet und sie ins Haus gebracht. Er war die ganze Zeit bei
ihr geblieben, ohne viel zu sagen, und das hatte gutgetan.
Seit damals hatte sie so viele leere Worte des Trostes gehört,
ohne darum gebeten zu haben.
»Schaffst du es, uns nach Hause zu fahren, Julia?«, fragte
Gerlof, nachdem sie den Kaffee ausgetrunken hatten und die
Geschichten versiegt waren.
»Ja, natürlich.«
Sie stand auf, um in die Küche zu gehen und das Geschirr
abzuwaschen, und ärgerte sich ein wenig über die Frage.
Ich habe zwar einen Mann gefunden, der unter einem
Steinblock begraben war, dachte sie, mit blutigem Mund und
Augen, die aus ihren Höhlen traten. Aber ich habe auch
früher schon Blut gesehen, Tote gesehen. Ich habe schon viel
Schlimmeres erlebt.
Dann aber fiel ihr trotz der bedrückenden Gedanken
plötzlich etwas ein, das eventuell wichtig sein könnte, und
sie kehrte ins Wohnzimmer zurück.
»Er hatte mich gebeten, dir etwas auszurichten«, sagte sie
zu Gerlof. »Das hatte ich ganz vergessen.«
Gerlof sah hoch.
»Ernst«, erklärte sie. »Ich habe ihn doch beim Sommerhausgetroffen, als ich in Stenvik ankam, und sollte dir etwas ausrichten.« Sie versuchte sich zu erinnern. »Irgendwas mit
dem Daumen, dass der Daumen das Wichtigste ist und nicht
die Hand.«
»Dass der Daumen das Wichtigste ist?«, fragte Gerlof.
Julia nickte.
»Verstehst du, was er damit meinte?«
Gerlof schüttelte gedankenverloren den Kopf. Er sah zu
John.
»Verstehst du das?«
»Keine Ahnung«, sagte John. »Ist das ein Sprichwort?«
»Weiß nicht, aber er hat es auf jeden Fall so gesagt«, sagte
Julia und ging wieder in die Küche.
Julia und Gerlof nahmen den Ford zum Campingplatz, John
folgte ihnen in seinem Wagen. Wolken waren über dem Kalmarsund aufgezogen und hatten die Sonne verdeckt. Stenvik,
das die Männer mit ihren Erzählungen über eine Zeit heraufbeschworen hatten, als dort noch viele das ganze Jahr über
wohnten und jeder Garten und Pfad einen eigenen Namen
hatte, war wieder in tiefen Schlaf gesunken. Die Häuser standen leer, die Flügel der Windmühlen drehten sich nicht mehr,
und zwischen den Holzpfeilern im Sund waren keine langen
Netze ausgelegt, um Aale darin zu fangen.
Als Julia in die Straße einbog und neben den Minigolfbahnen hielt, stieg John aus seinem Wagen und kam zu ihnen:
»Kümmer dich ein bisschen um deinen Vater, ja?«
Es war das erste Mal, dass John Hagman sie direkt angesprochen hatte.
Julia nickte.
»Ich werde es versuchen.«
»Wir bleiben in Kontakt, John«, sagte Gerlof. »Lass von dir
hören, wenn du was siehst … Unbekannte.«
Unbekannte! Julia erinnerte sich an ein Ereignis aus ihrerKindheit in den Fünfzigerjahren, als ein Schwarzer, der ein
fröhliches, breites
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