Öland
seinen Kopf immer fester. Durch den Schmerz
kann er nicht klar denken.
»Nicht schießen «, wispert der vordere Soldat erneut.
Nils versteht die Worte nicht, findet aber, dass die Sprache
wie die Adolf Hitlers im Radio klingt. Dann sind es also
doch Deutsche aus dem Großen Krieg. Wie sind sie hierher
gekommen?
Ein Boot, überlegte er sich. Sie müssen mit einem Boot
über die Ostsee gekommen sein.
»Ihr kommt mit«, sagt er.
Er spricht langsam, damit die Soldaten ihn verstehen. Er
muss jetzt das Kommando übernehmen, schließlich hält er
ein Gewehr in den Händen.
Er nickt ihnen zu.
»Versteht ihr, was ich sage?«
Es ist ein gutes Gefühl zu reden, auch wenn sie ihn nicht
verstehen. Es dämmt seine Angst ein und ermöglicht ihm, die
Lähmung in seinem Kopf zu bekämpfen. Nils könnte sie nach
Stenvik mitnehmen und zum Helden werden. Den anderen
im Ort wäre das zwar egal, aber seine Mutter würde stolz auf
ihn sein.
Der vordere Soldat nickt auch und senkt langsam seine
Arme.
» Wir wollen nach England fahren «, sagt er. » Wir wollen in die
Freiheit .«
Nils sieht ihn an. Er versteht nur England , weil es genauso
klingt wie auf Schwedisch, aber er ist sich sicher, dass die beiden keine Engländer sind.
Der hintere Soldat lässt eine Hand zu seiner Jackentasche
sinken.
»Nein!«
Nils’ Herz pocht laut, er öffnet den Mund.
Der Soldat steckt seine Hand in die Tasche. Seine Hände bewegen sich zu schnell; Nils’ Augen können ihm nicht folgen.
Er muss etwas tun und ruft:
»Hände ho …«
Ein Donnern verschluckt den Rest des Wortes. Die Flinte
zuckt.
Aus der Gewehrmündung steigt Rauch auf, verdeckt für
einen kurzen Augenblick die Männer vor ihm.
Nils hat nicht absichtlich geschossen, er hat nur seine
Flinte fester gepackt, um damit nach oben zu zeigen. Aber
der Schuss hat sich gelöst, die Salve der Schrotkörner abgefeuert, und der vordere Soldat ist wie ein Baum umgefallen.
Nils sieht ihn durch den Rauch hindurch nur als einen
Schatten, der zu Boden sinkt, zuckt und dann still im Gras liegen bleibt.
Der Rauch verzieht sich, alle Geräusche sind verstummt,
aber der Soldat liegt mit zerfetzter Uniformjacke regungslos
auf der Seite. Sekundenlang sieht er unverletzt aus, doch
dann tropft das Blut durch die Risse im Stoff, und es bilden
sich große schwarze Flecken auf der Jacke. Der Soldat schließt
die Augen und scheint im Sterben zu liegen.
»Verdammt …«, flüstert Nils.
Es ist zu spät. Er hat geschossen, noch dazu auf den falschen Soldaten. Der Vordere hatte seine Hand nicht in die
Tasche gesteckt, liegt jetzt aber blutend auf der Erde.
Nils hat einen Menschen erschossen wie einen Hasen.
Der Soldat auf dem Boden blinzelt, seine Arme zucken, er
versucht den Kopf zu heben, aber es gelingt ihm nicht.
Er keucht, hustet, atmet aus, holt aber keine Luft mehr.
Sein Blut bedeckt die gesamte Uniformjacke. Sein Blick irrtumher und erstarrt schließlich, die Augen in den Himmel
gerichtet.
Hinter ihm steht der andere Soldat, der mit seiner Hand
in der Tasche getastet hatte, mit zusammengepressten Lippen und leerem Blick. Er steht vollkommen still, hält aber
zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand etwas
in die Höhe, das er aus der Tasche geholt hat, kurz bevor sich
der Schuss gelöst hat.
Keine Waffe, sondern etwas viel Kleineres. Es sieht aus wie
ein rotschwarzer Stein, der blitzt und glänzt, obwohl die
Sonne nicht mehr scheint.
Nils hält das Gewehr, der Soldat seinen kleinen Stein. Keiner von ihnen senkt den Blick.
Nils hat geschossen, er hat getötet. Die erste Panik verfliegt, und kalte Ruhe erfüllt ihn. Jetzt hat er wieder alles
unter Kontrolle.
Nils atmet aus, macht einen Schritt auf den Soldaten zu
und nickt in Richtung Stein.
»Gib ihn mir«, sagt er ganz ruhig.
10
G erlof antwortete nicht auf Julias Frage, welches Verbrechen
Nils Kant begangen hatte. Er zeigte nur wortlos über ihre
Schulter in die Dunkelheit hinaus.
»Familie Kant hat nebenan gewohnt«, erzählte er. »In dem
großen gelben Haus. Sie lebten hier, lange bevor wir hier anfingen zu bauen.«
»Ich erinnere mich an eine alte Frau, die dort gelebt hat, als
ich klein war«, sagte Julia.
»Das war Nils’ Mutter, Vera Kant«, erläuterte Gerlof. »Sie
starb Anfang der Siebzigerjahre. Davor hat sie viele Jahre alleine gelebt. Sie war sehr reich … Ihre Familie betrieb ein
Sägewerk in Småland, sie selbst besaß viele Grundstücke
an der Küste
Weitere Kostenlose Bücher