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Öland

Öland

Titel: Öland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
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meiner Angst verschwand, als Ella ins Krankenhaus kam. In dem Herbst, als sie blind wurde und sich langsam von uns verabschiedete.«
    Julia nickte schweigend. Sie wollte nicht an den Tod ihrer
     Mutter denken.
    Jens hatte an jenem nebligen Tag im September aus zwei
     Gründen das Häuschen verlassen können. Weil Gerlof nicht
     zu Hause war und seine Großmutter mitten am Nachmittag
     eingeschlafen war. Eine chronische Müdigkeit hatte sich in
     dem Sommer in ihren Körper geschlichen und ihre gewohnte
     Schnelligkeit vertrieben. Es war für alle vollkommen unerklärlich gewesen, bis die Ärzte ein Jahr später Diabetes bei
     ihr diagnostizierten.
    Jens verschwand, und seine Großmutter Ella lebte noch
     einige Jahre. Aber sie wurde Tag für Tag schwächer, gequält
     von Kummer und schlechtem Gewissen, weil sie an jenem
     Tag geschlafen hatte.
    »Der Tod wird so etwas wie ein Freund, wenn man alt wird«,
     sagte Gerlof. »Oder sagen wir, ein Bekannter. Ich möchte nur,
     dass du das weißt und nicht glaubst, ich könnte Ernsts Tod
     nicht verkraften.«
    »Gut«, sagte Julia.
    Allerdings hatte sie an diesem Tag noch keine Zeit gefunden, über Gerlofs Befinden nachzudenken.
    »Das Leben geht weiter«, sagte Gerlof und trank seinen
     Tee aus.
    »Irgendwie«, erwiderte Julia.
    Sie schwiegen eine Weile.
    »Wolltest du nicht, dass ich dir Fragen stelle?«, sagte Julia
     dann.
    »Genau. Frag einfach.«
    »Aber was?«
    »Tja … Möchtest du wissen, wie der Stein hieß, der in den
     Steinbruch gestoßen wurde?« Gerlof sah zu Julia. »Dieser unförmige Stein … Haben die Polizisten aus Borgholm danach
     gefragt? Oder Lennart Henriksson?«
    »Nein«, sagte Julia. Sie dachte nach. »Ich glaube, sie haben
     ihn gar nicht gesehen, sie haben sich nur die Kirchturmskulptur angesehen und …« Sie schwieg. »Ich habe auch nicht
     an den Stein gedacht. Was ist mit ihm?«
    »Das frage ich mich auch«, grübelte Gerlof. »Aber das Interessanteste ist wohl sein Name.«
    »Wie heißt er denn?«
    Gerlof holte tief Luft, lehnte sich im Sessel zurück und
     atmete mit einem langen Seufzer aus.
    »Er hat Ernst nie richtig gefallen …«, sagte Gerlof. »Er hatte
     Risse und war ihm nicht gelungen, fand er. Darum nannte er
     ihn ›Kantstein‹. Nach Nils Kant.«
    Gerlof sah Julia an, als würde er eine Reaktion von ihr erwarten.
    »Nils Kant«, wiederholte sie nur. »Aha.«
    »Hast du den Namen schon einmal gehört?«, fragte Gerlof.
     »Hat dir gegenüber jemand den Namen schon einmal erwähnt?«
    »Nicht, dass ich wüsste«, entgegnete Julia. »Aber den Nachnamen Kant habe ich schon mal gehört.«
    Ihr Vater nickte.
    »Familie Kant wohnte in Stenvik«, sagte er dann. »Nils warder einzige Sohn, das schwarze Schaf, aber als du nach dem
     Krieg geboren wurdest, war er schon nicht mehr hier.«
    »Ach so.«
    »Er hatte sich aus dem Staub gemacht«, erklärte Gerlof.
    »Was hat dieser Nils Kant denn so Schlimmes verbrochen?«,
     fragte Julia. »Hat er jemanden getötet?«

STENVIK, MAI 1945
    N ils Kant hat sein Gewehr auf die beiden deutschen Soldaten gerichtet, den Finger am Abzug. Der Wind, das Vogelgezwitscher und alle anderen Geräusche der Alvar sind verstummt. Die Landschaft um ihn ist verschwommen; Nils
sieht nur die beiden Soldaten und den Gewehrlauf, den er
auf sie richtet.
    Die Soldaten stehen wie auf Kommando vorsichtig auf. Sie
scheinen nicht genug Kraft in den Beinen zu haben, müssen
sich mit den Händen im Gras abstützen, um auf die Füße
zu kommen, und heben die Arme. Aber Nils senkt seine
Waffe nicht.
    »Was wollt ihr hier?«, fragt er.
    Die Männer starren ihn mit den Händen über dem Kopf
nur an, antworten nicht.
    Der Vordere stolpert einen Schritt nach hinten, stößt gegen seinen Kameraden und bleibt stehen. Er sieht jünger aus
    als der andere, aber beide Gesichter tragen eine Maske aus
    grauem Staub, Erde und schwarzen Bartstoppeln, darum
    kann man ihr Alter kaum schätzen. Ihre Augen sind gerötet
    und sehen aus wie die von Hundertjährigen.
    »Woher kommt ihr?«, fragt Nils.
    Keine Antwort.
    Als Nils seinen Blick über den Boden gleiten lässt, entdeckt er bei den Soldaten kein Gepäck. Die graugrünen Uniformen haben abgewetzte Knie und ausgefranste Säume, der
vordere Soldat hat über dem Knie einen breiten Riss im
Stoff.
    Nils hat ein Gewehr, aber das beruhigt ihn nicht. Er versucht langsam durch die Nase ein und aus zu atmen, damit
seine Arme nicht zittern. Ein unsichtbares Eisenband umklammert

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