Öland
vorbeifuhr, sah das Haus nämlich aus, als würde es jeden Augenblick einstürzen.«
»Ich weiß. Ich gehe da nicht alleine rein«, sagte Julia.
Die Straßen von Marnäs waren menschenleer. Die Geschäfte
waren dunkel, nur der Kiosk am Marktplatz hatte noch geöffnet. Die feuchte Luft war frostkalt.
Lennart löschte das Licht und schloss die Tür ab.
»Fährst du jetzt nach Stenvik?«, fragte er.
Julia nickte.
»Sehen wir uns später noch?«
»Ja, vielleicht, mal sehen.«
Julia fiel noch etwas ein.
»Hast du schon Neuigkeiten über die Sandale, die dir Gerlof gegeben hat?«
Er sah sie fragend an, dann erinnerte er sich.
»Nein, leider nicht«, erwiderte er. »Ich habe sie in einer versiegelten Tüte ins Rechtsmedizinische Institut nach Linköping geschickt, aber noch keine Antwort erhalten. Ich rufe
nächste Woche mal an. Aber wir sollten uns nicht zu viel
davon erhoffen. Es ist sehr lange her und nicht einmal sicher,
dass es die richtige …«
»Ich weiß. Es muss gar nicht seine Sandale gewesen sein«,
unterbrach Julia ihn schnell.
Lennart nickte.
»Mach’s gut, Julia.«
Er streckte ihr die Hand hin, was recht unpersönlich war,
nachdem sie sich so viel voneinander erzählt hatten und mittlerweile sogar duzten. Aber Julia mochte es im Grunde auch
nicht, alle gleich zu umarmen, darum gab sie ihm gerne die
Hand.
»Danke für die Pizza.«
»Gern geschehen. Ich rufe dich nach der Sitzung an.«
Sein Blick verweilte noch einen Moment auf ihrem Gesicht, was alles und nichts bedeuten konnte. Dann drehte er
sich um und ging.
Julia ging zum Wagen. Langsam verließ sie das Stadtzentrum und fuhr am Altersheim vorbei, wo Gerlof bestimmt
gerade seinen Abendkaffee trank.
War Lennart Henriksson jetzt verheiratet oder Junggeselle? Julia wusste es nicht und hatte sich nicht getraut, ihn
zu fragen.
Auf dem Weg nach Stenvik überlegte sie, ob sie ihm zu viel
über sich und ihre Schuldgefühle verraten hatte. Aber es
hatte ihr gutgetan, mit ihm zu reden nach diesem merkwürdigen Tag in Borgholm und Gerlofs neuen Theorien.
Sie hatte nicht den Eindruck, dass seine Ideen irgendwo
hinführten. Sie konnte genauso gut wieder zurück nach Göteborg fahren. Sie beschloss, am nächsten Tag aufzubrechen.
Erst würde sie auf die Beerdigung gehen und am Nachmittag
dann nach Hause fahren und versuchen, ein besseres Leben
zu führen. Weniger Wein, weniger Tabletten. So schnell wie
möglich wieder als Krankenschwester arbeiten, sich nicht
mehr an die Vergangenheit klammern und über Fragen
grübeln, die nie gelöst werden konnten. Ein normales Leben
führen und in die Zukunft sehen. Im Frühling würde sie
dann zurückkommen und Gerlof besuchen – vielleicht auch
Lennart.
Die ersten Häuser von Stenvik tauchten auf, sie wurde
langsamer, hielt vor Gerlofs Sommerhaus und fuhr den Wagen in den Garten. Sie wollte in ihrer letzten Nacht auf Öland
in ihrem alten Zimmer im Sommerhaus schlafen. Umgeben
von vielen schönen und schrecklichen Erinnerungen.
Als sie ins Haus kam, machte sie die Lampen im Wohnzimmer an. Dann ging sie zum Bootshaus, um ihre Sachen
zu holen.
Sie konnte in der Dunkelheit das Haus von Vera Kant förmlich spüren, als sie daran vorbeiging. Sie warf einen kurzen
Blick zu den Häusern von Astrid Linder und John Hagman,
ehe sie zum Bootshaus ging.
Nachdem sie alles gepackt hatte, fiel ihr Blick auf die Petroleumlampe im Fensterrahmen, und nach kurzem Zögern
nahm sie die Lampe vom Haken und trug sie ins Sommerhaus. Für alle Fälle.
Auf dem Rückweg sah sie zu Vera Kants Haus hinauf, das
hinter der hohen Sanddornhecke groß und schwarz aufragte.
Heute brannte kein Licht in den Fenstern.
»In Kants Haus haben wir nicht gesucht«, hatte Lennart
gesagt.
Warum hätte die Polizei auch dort suchen sollen?
Und wenn sich Nils Kant nun doch in dem Haus versteckt
gehalten und Vera ihn gedeckt hatte? Dann hätte Jens im Nebel auf die Hauptstraße gehen, bei ihrem Gartentor stehen
bleiben, es öffnen und hineingehen können …
Nein, das war viel zu weit hergeholt.
Zurück im Sommerhaus, machte Julia in jedem Zimmer
Licht. Weil es ihr letzter Abend auf Öland war, öffnete sie eine
Weinflasche und goss sich ein Glas ein. Nachdem sie es an
den Küchentisch gelehnt geleert hatte, schenkte sie sich ein
zweites ein und nahm es mit ins Wohnzimmer.
Wenn Lennart früh fertig sein sollte und er sie anrief,
würde sie noch einmal versuchen,
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