Offenbarung
Ausweichens gesetzt. Anstatt die
Unterdrücker direkt anzugreifen, versteckten sie sich lieber
zwischen den Sternen und vermieden möglichst jeden Kontakt. Sie
waren Meister der Tarnung. Die Menschheit dagegen ging auf
Konfrontationskurs, nachdem sie von den Nestbauern einiges an Waffen
und Informationen bekommen hatte, und vertrieb die Unterdrücker
aus der näheren Umgebung. Das hatte den Nestbauern nicht
gefallen: Sie hatten davor gewarnt, das Gleichgewicht zu stören.
Manchmal seien selbst schlimme Dinge noch besser als die Alternative
dazu.
Die Menschheit hatte nicht hören wollen.
Vielleicht hat es sich doch gelohnt, denkt sie jetzt. Wir durften vierhundert Jahre lang ein zweites Goldenes
Zeitalter erleben. Wir haben großartige Leistungen vollbracht
und großartige Spuren hinterlassen. Wir hatten eine tolle Zeit.
Wir vergaßen die alten Legenden und schufen bessere, neue
Märchen für eine neue Zeit. Doch währenddessen lauerte
schon etwas im Gebüsch. Als wir die Unterdrücker aus der
Gleichung herausnahmen, gaben wir den Blattläusen ihre
Chance.
Das heißt nicht, dass nun alles zu Ende wäre. Wo die
Blattläuse durch die Systeme fegen, werden die Welten evakuiert.
Anfangs kam es dabei zu katastrophalen organisatorischen Fehlern,
doch inzwischen läuft alles besser. Die Behörden sind der
Welle voraus. Was die Kontrolle von Flüchtlingsströmen
angeht, sind sie nun mit allen Wassern gewaschen.
Wieder späht sie in die Dunkelheit hinaus. Die
Blattlausmaschinen haben es nicht eilig: Da draußen gibt es
immer noch Kolonien, die ihnen erst in Jahrhunderten, ja in
Jahrtausenden zum Opfer fallen werden. Noch ist Zeit zum Leben und
zum Lieben. Eine Verjüngungskur ist sogar für eine alte
Halb-Synthetikerin eine verlockende Möglichkeit. Angeblich gibt
es jetzt in den Plejaden bewohnte Welten. Von dort aus müsste
die Welle von grünfleckigen Sonnen ziemlich fern und wenig
bedrohlich erscheinen.
Aber bis sie die Plejaden erreichte, wären seit ihrer Geburt
weitere vierhundert Jahre vergangen.
Sie muss oft an die Botschaften der Schatten denken. Darin war
unter anderem von einer Verfolgung durch Maschinen die Rede gewesen,
die die Sonnen grün färbten. Nicht zum ersten Mal fragt sie
sich, ob das wirklich ein Zufall sein kann. Nach der aktuellen
Bran-Theorie müssten die Botschaften aus der Gegenwart und nicht
aus der fernen Zukunft oder der fernen Vergangenheit gekommen sein.
Aber wenn nun die Theorie falsch wäre? Wenn alles – die
Schatten-Bran, der Bulk, die Gravitationssignale – nur eine
tröstliche Fiktion wäre, hinter der sich eine noch
seltsamere Wahrheit verbirgt?
Sie weiß es nicht. Und sie wird es wohl auch nie
erfahren.
Vielleicht will sie es auch gar nicht.
Wieder wendet sie sich dem Meer zu. Hier gingen sie alle zugrunde,
als diese Welt noch Ararat hieß. Niemand nennt sie jetzt mehr
so: Niemand erinnert sich, dass sie einmal diesen Namen trug. Sie ist
die Einzige, die es noch weiß.
Sie war mit der Sehnsucht nach Unendlichkeit auf der Flucht
und musste mit ansehen, wie die Unterdrücker den Energiestrahl
des Weltraumgeschützes ablenkten und so den ersten Mond
zertrümmerten.
Unterdrücker. Weltraumgeschütz. Sehnsucht nach
Unendlichkeit: Das klingt wie Verse eines Kinderreims, an den sie
seit Jahren nicht mehr gedacht hat, fast ein wenig lächerlich,
und doch von einer tieferen Bedeutung, die sie erschauern
lässt.
Genau genommen hatte sie nicht selbst mit angesehen, wie der Mond
zerbrach. Wirklich gesehen hatte es nur ihre Mutter. Aber in ihren
Erinnerungen gibt es da kaum einen Unterschied. Sie war Zeugin
gewesen, wenn auch durch fremde Augen.
Sie denkt an Antoinette, Xavier, Blood und die anderen, die –
freiwillig oder nicht – auf Ararat geblieben waren, während
sie mit dem Raumschiff entkam. Keiner von ihnen konnte überlebt
haben, als die Trümmer des zerstörten Mondes in den Ozean
stürzten. Sie mussten ertrunken sein, als die Tsunamis ihre
armseligen kleinen Siedlungen überspülten.
Es sei denn, sie hätten sich entschlossen, schon vorher den
Tod im Wasser zu suchen. Vielleicht hatte das Meer sie aufgenommen?
Die Musterschieber hatten schon beim Start des Schiffes geholfen.
Wäre es so abwegig, sich vorzustellen, sie hätten auch die
zurückgebliebenen Inselbewohner gerettet?
Vierhundert Jahre lang hatten hier intelligente Wesen gelebt,
darunter auch Schwimmer. Manchmal, so stand es in den Aufzeichnungen,
berichteten sie von Kontakten mit Gespenstern: mit
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