Ohne Beweis (German Edition)
zusammen zu sacken. Joska hielt Kamil an beiden Händen fest und drückte ihn auf den Boden. Aus Kamil war jedoch jegliches Leben gewichen und Tränen liefen ihm übers Gesicht. Ob nun aus Frust über seinen verlorenen Kampf oder wegen der Wahrheit über seinen Vater oder auch aus Angst vor dem, was nun unweigerlich kommen musste, konnte keiner erkennen.
„Hol den Wachposten, der hoffentlich noch vor Kamils Tür steht, Nora. Bei dir alles klar?“, fragte Joska professionell, aber sehr fürsorglich. Ihm steckte immer noch der Schreck in den Gliedern, weil seine zierliche Nora sich in den Kampf eingemischt hatte.
„Alles klar. Mir geht’s gut und dir?“, fragte Nora besorgt, ging aber dennoch in Richtung Türe. Aber erst als Joska ihr versichert hatte, dass er in Ordnung war, ging sie hinaus, um den Beamten zu suchen, der in ihren Augen komplett versagt hatte. Denn hätte der Wachhabende besser aufgepasst, wäre das alles nicht passiert.
Dieser verstand zunächst auch überhaupt nicht, was Nora von ihm wollte, denn seiner Meinung nach lag der zu Bewachende friedlich in seinem Bett. Nachdem Nora aber kurzerhand die Türe aufgerissen und dem entsetzt hinterher stürmenden Beamten das leere Bett gezeigt hatte, begriff der junge Mann endlich, was hier eigentlich vor sich ging. Da sein Englisch sehr schlecht und sein Deutsch miserabel war, packte Nora ihn einfach bei der Hand und zerrte ihn hinüber zu ihrem Krankenzimmer, wo Joska den wie in Trance dreinblickenden Kamil in Noras Bett verfrachtet hatte. Der zutiefst verstörte Mann leistete inzwischen keinen Widerstand mehr.
„Armer Kamil“, flüsterte Nora mitfühlend, obwohl sie eigentlich keinen Grund hatte, Kamil zu bedauern. Doch selbst Carmen schaute mitleidig auf ihren einstigen Freund. Sie war immer noch total durcheinander und konnte einfach nicht fassen, was in den letzten Tagen alles passiert war. Irgendwie kam es ihr vor, als wäre das alles jemand ganz anderem wiederfahren und sie hätte nur einen Film angeschaut. Doch ihre Blessuren und Schmerzen zeigten ihr, dass sie selbst es war, die in diese ganze Geschichte verwickelt war. Ob es ihr jemals gelingen würde, Kamil zu verzeihen? Konnte sie diesen total verstörten Mann überhaupt noch lieben? Hatte sie ihn wirklich geliebt oder war es nur eine Flucht vor ihrer Einsamkeit gewesen?
All diese Fragen würde sie heute nicht mehr beantworten können. Kamil würde zunächst in irgendeine Verwahrung kommen, bevor ihm der Prozess gemacht werden würde. Und Carmen, sowie auch Nora und Joska mussten wieder zurück nach Deutschland. Zuhause konnte Carmen dann darüber nachdenken, ob sie bereit war, Kamil jemals wieder unter die Augen zu treten.
69
„Nora!“, rief Carmen, als diese die Werkstatt verlassen hatte und auf ihrem Roller nach Hause fahren wollte. Sie waren nun schon wieder über einen Monat zurück in der Heimat und der Alltag hatte sie längst eingeholt.
„Kamil hat geschrieben, das heißt – er hat wohl schreiben lassen – denn das Deutsch in diesem Brief ist ziemlich gut. Hier, lies selbst!“, forderte Carmen Nora auf und hielt ihr einen handgeschriebenen Brief unter die Nase. Nora setzte ihren Helm wieder ab, blieb aber auf ihrem Roller sitzen, während sie las:
Liebste Carmen,
es tut mir alles so unendlich leid. Ich wollen das alles nicht und ich können selbst noch immer nicht begreifen, was mich zu all den Taten getrieben hat. Ich sein jetzt aber in psychologischer Betreuung im Gefängnis – man hat mich zu fünf Jahren verurteilt. Als ich die Wahrheit über meine Vater noch nicht kennen, es mir gehen sehr schlecht, aber jetzt ist auch nicht besser! Aber die Ärzte wollen mir helfen, alles zu verstehen und zu verarbeiten. Wird schon werden. Ich wollen mich nur bei dir entschuldigen und du brauchen mich auch nicht zu besuchen. Ist besser, wenn du mich vergisst.
Du sagen auch Gruß und Entschuldigung an Nora und Herr Kiss. Danke!
Kamil
Nora schaute Carmen traurig an. Diese hatte inzwischen glasige Augen und seufzte:
„Der arme Kamil. Wenn ich geahnt hätte, dass er so besessen davon ist, die Wahrheit über seinen Vater heraus zu bekommen, hätte ich ihm die Geschichte vielleicht doch schon früher erzählt. Aber wie hätte er dann reagiert? Wäre er dann auch so ausgerastet?“
„Wer kann das wissen, Carmen? Man kann doch in niemanden hinein schauen und keiner weiß, wie er selbst in bestimmten Situationen reagieren
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